zum Hauptinhalt
Was sind 88 Tasten gegen Milliarden von Neuronen? Chick Corea (12.6.1941 - 9.2.2021) um 1980.

© imago images/Leemage

Nachruf Chick Corea: Der Mann, der einfach alles konnte

Mit Kraft, Leichtigkeit und Spontaneität: Zum Tod des epochalen Jazzpianisten und Keyboarders Chick Corea.

Von Gregor Dotzauer

So präsent, wie er bis in die letzten Lockdownmonate war, könnte man glatt behaupten, er sei mitten aus dem Leben gerissen worden. Auf Facebook lud Chick Corea per Livestream regelmäßig in sein Musikzimmer ein, wo er am Flügel improvisierte, sich durch den Notentext halbvergessener Eigenkompositionen buchstabierte und auch einem alten Vergnügen nachging: klingenden Porträtskizzen von zugeschalteten Hörerinnen und Hörern.

Auch in seinen Solokonzerten fragte er gerne ins Publikum, ob sich jemand für ein Charakterstück zu ihm auf die Bühne traue. Schon als Fünf- oder Sechsjähriger stellten er und seine Cousins im Haus des Großvaters bei Sonntagsbesuchen am Klavier im Keller die Eigenarten und Wesenszüge der versammelten Verwandtschaft nach.

Angesichts der 79 Jahre, die er erreichte, bevor ihn am vergangenen Dienstag eine nicht näher genannte seltene Krebserkrankung in kurzer Zeit zerstörte, wäre das Bild einer künstlerischen Mitte, um die er sich gewissermaßen kubistisch bewegte, sicher treffender. Denn bei aller zwangsläufigen Chronologie seiner Entwicklung war er ein Mann der Metamorphosen, der sich ständig vor und zurück und zur Seite hin verwandelte.

Als Schmetterling flatterte er, wie in den frühen Aufnahmen seiner Band Return To Forever, durch lateinamerikanische und brasilianische Sphären. Als Falke stieß er herab auf die kantigen Kompositionen von Thelonious Monk und verleibte sie sich ein. Als Kampfjet jagte er schneller, als man schauen konnte, durch die Fusionstücke seiner elektrischen Bands. Und dennoch blieb er in seiner musikalischen Persönlichkeit durchweg erkennbar.

Groove und Lyrismus

Chick Corea, am 12. Juni 1941 als Sohn eines Jazztrompeters kalabrischer Herkunft in Boston aufgewachsen, war einer der einflussreichsten Pianisten und Keyboarder des modernen Jazz. Mit seiner Virtuosität beerbte er den (unerreichbaren) Art Tatum. Mit seinem Lyrismus knüpfte er an Bill Evans an. Und mit seinem Gespür für Groove übersetzte er die Soulseligkeit von Horace Silver, seinem größten Vorbild in jungen Jahren, in ein zeitgenössisches Idiom.

Sein Handwerk lernte er Anfang der 1960er Jahre bei Mongo Santamaria und dessen Latin-Congas und bei Blue Mitchell und dessen Hardbop-Trompete; eine formale Ausbildung an der Juilliard School brach er nach kurzer Zeit ab. Der Hardbop klingt noch auf „Tones for Joan’s Bones“ nach, seiner ersten Aufnahme unter eigenem Namen, die er 1966 als 25-Jähriger machte. Zwei Jahre später hatte er seinen eigenen Sound und seine eigene Sprache gefunden, die er über die Jahrzehnte perfektionierte.

Mit seltener Kraft, Beweglichkeit und Leichtigkeit vereinte er modale und funktionsharmonische Ansätze zu einprägsamen Voicings, wie sie McCoy Tyner, der Pianist des John Coltrane Quartetts, und Bill Evans entwickelt hatten. In der Rechten entfalteten sich, von Blockakkorden akzentuiert, rasende, gestochen scharf artikulierte Linien – Töne von kompromissloser Entschiedenheit.

„Now He Sings, Now He Sobs“ mit Miroslav Vitous am Bass und Roy Haynes am Schlagzeug gehört seither zu den großen Pianotrio-Alben in der Geschichte des Jazz. Es übte sich in einer noch durch und durch akustischen Musik, die nur darauf wartete, elektrifiziert zu werden.

In der Band von Trompeter Miles Davis, in die er aufgenommen wurde, weil sein Vorgänger Herbie Hancock gefeuert worden war, nachdem der sich auf der Hochzeitsreise eine Lebensmittelvergiftung zugezogen hatte, stürzte sich Corea in einen brodelnden Jazzrock, den er mit einem ringmodulatorverzerrten Fender Rhodes zusätzlich anzuheizen wusste.

Pianistisches Trio infernale

An einem zweiten E-Piano begegnete ihm zeitweise Keith Jarrett, der sich von jedweder Fusion bald entfernte. Zusammen bilden sie das Trio infernale des modernen Jazzpianos, von dem, nach Jarretts durch einen Schlaganfall erzwungenen Bühnenabschied, allein Hancock noch aktiv ist.

In der Folge baute Corea seine musikalische Welt nach allen Richtungen aus. Die größten Freiheiten nahm er sich mit dem Bassisten Dave Holland, dem er bei Miles begegnet war, und dem Drummer Barry Altschul. Einem Trio, das sich mit dem Saxofonisten Anthony Braxton zum Circle Quartett erweiterte.

Bis zum puren Geräusch übte sich dieses kommunikationsfreudige, mal ausgelassen klappernde, mal düstere Klangwolken vor sich herschiebende Ensemble zwischen lyrischer Inbrunst und nervöser Atonalität. Am anderen Ende dieser abstrakten Improvisationsmusik, die dennoch hohe sinnliche Qualitäten besaß, entstand der Hochgeschwindigkeitsjazz von Return To Forever.

Für ihn fand er begeisterte Kopiloten wie den Bassisten Stanley Clarke oder den Gitarristen Al Di Meola. Damit öffnete er seine Musik einem Progrock-Publikum, das mit Jazz zuvor gefremdelt hatte, während Hancock mit seinen Headhunters eher Tanzwütige mobilisierte. Und bei alledem fand Corea auch noch Zeit für intimere Projekte: etwa Soloaufnahmen für ECM, die zu den Höhepunkten der Gattung gehören.

Vertrauen in den Moment

Am besten aber war er mitunter in Duos. Spektakulär seine Auftritte mit dem Sänger Bobby McFerrin, die von Coreas rücksichtslosem Vertrauen in den Moment zeugen, von einer Spontaneität und Abenteuerlust, die erst später, schon ganz mit der Geste des Maestros, hin und wieder zur Zirkusnummer verkamen. Seine fast ein halbes Jahrhundert umspannende Partnerschaft mit dem Vibraphonisten Gary Burton war davon nie gefährdet: Man tut gut daran, diese Art von äußerster künstlerischer Verschworenheit nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen. Gottseidank zeugen zahlreiche Aufnahmen davon, wie sich die beiden gegenseitig zu Höchstleistungen anspornen.

Chick Corea verstand sich zeit seines Lebens als Botschafter einer grenzenlosen musikalischen Offenheit. Er verehrte Stevie Wonder und zollte ihm mehrfach Tribut, aber wenn er sich nicht innerhalb der weiten Jazztradition bewegte, suchte er weniger die Nähe zu Pop und Soul als zur klassischen Musik. Wolfgang Amadeus Mozart bedeutete ihm soviel wie Alban Berg: eine ausgesprochen alltagstaugliche Bewunderung, die auch seinen pianistischen Anschlag schulte.

[Jeden Donnerstag die wichtigsten Entwicklungen aus Amerika direkt ins Postfach – mit dem Newsletter „Washington Weekly“ unserer USA-Korrespondentin Juliane Schäuble. Hier geht es zur kostenlosen Anmeldung]

Es ist zum Heulen, dass nun auch dieser Hausheilige des zeitgenössischen Jazz, der bis in die letzten Jahre unermüdlich lebendige, spannungsreiche Alben vorlegte und Konzerte spielte, nicht mehr sein soll. Ob als Mentor für den jungen georgischen Pianisten Beka Gochiasvili, als Sparringspartner für die Japanerin Hiromi oder als Förderer mehrerer Generationen von Musikern, die er wie den Bassisten John Patitucci oder den Drummer Dave Weckl zu Stars machte – er hatte ein Händchen für die Nachwachsenden, ein Urteil und jene Liebe zur Sache, ohne die es nicht geht.

Der einzige Trost ist, dass er in Hunderten junger Pianistinnen und Pianisten fortlebt – nicht nur, wenn sie Corea-Kompositionen wie „Humpty Dumpty“, „La Fiesta“ oder das weltberühmte „Spain“ spielen. Und selbst Nichtmusiker könnten Entscheidendes über die Geheimnisse des Jazzklaviers lernen, wenn sie die Chick Corea Academy (chickcoreaacademy.com) mit ihren Videotutorials besuchen. Auch als Ruine, die sie nun wohl oder übel bleiben wird, ist sie ein Palast.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false