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Einen schikanösen Alltag im Frauengefängnis beschreibt Debra Jo Immergut in „Die Gefangenen“.

© Rose Palmisano/The Orange County Register

Kriminalroman „Die Gefangenen“: Nähe, die zur Gefahr wird

Psychologische Tiefen: Debra Jo Immergut veröffentlicht mit ihrem literarischen Debüt einen außerordentlicher Kriminalroman über zwei Häftlinge.

Im Gefängnis verliert ein Mensch seine Persönlichkeit, er wird zum Fall für Verwalter und Aufseher, bekommt eine Nummer. 0068-N-97, das ist die Nummer von Miranda Greene. 

Der Code lässt sich einfach entschlüsseln. Greene ist die 68. Insassin, die 1997 in die Justizvollzugsanstalt N des Staates New York eingeliefert wird, besser bekannt als Strafanstalt Milford Basin. Sie bekommt Zelle 34 in der Abteilung 109C.

Greene entspricht nicht dem Knastklischee, sie stammt aus einem sogenannten guten Haus, ihr Vater hat eine Amtszeit lang einen Wahlkreis in Pennsylvania im Kongress vertreten. Jetzt ist sie wegen Totschlags zu 52 Jahren Haft verurteilt worden. 

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Für Greene erstreckt sich die Strafe über eine „derart obszöne Anzahl von Jahren“, dass sie sich weigert, in mathematischen Kategorien über ihre Länge nachzudenken. Lieber stellt sie sich die Zeit als eine Straße vor, „die im Nebel verschwand“.

Miranda Greene ist die eine Stimme in Debra Jo Immerguts außerordentlichem Kriminalroman „Die Gefangenen“, die andere gehört Frank Lundquist, ihrem Therapeuten. Beide erzählen abwechselnd von ihrer Begegnung, ihrem Leben, ihrer Verstrickung. 

Frank erkennt sie sofort wieder, als die Gefangene sein Büro im Psychologischen Beratungszentrum der Strafanstalt betritt. Sie ist sein Highschool-Schwarm gewesen. Verliebt ist er noch immer, vor allem in die Erinnerung. 

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Eigentlich dürfte er sie nicht behandeln, der Verhaltenskodex des amerikanischen Psychologenverbands ist da angesichts einer derartigen Vorgeschichte eindeutig. Miranda hat ihren Mitschüler einst ignoriert und weiß nicht, wen sie vor sich hat. Frank wird sie erst später aufklären, zu spät.

„Die Gefangenen“ handelt von Obsessionen, von Nähe, die zur Gefahr wird. Vielleicht aber auch zur Chance. Auch der Psychologe ist nicht wirklich freiwillig in Milford Basin. Nachdem er bei der Therapie eines Kindes handgreiflich geworden war, kam es zu einem Todesfall und zum Prozess. 

Lundquist verlor seinen Job, seine Ehe scheiterte. Den Absturz nennt er „Implosion“. In der Strafanstalt hat der Gestrauchelte begonnen, sein Selbst wieder neu zusammenzusetzen. Mit Minderwertigkeitsgefühlen kennt er sich aus. Sein Vater, ein berühmter Kinderpsychologe, hatte den „Lundquist-Test“ entwickelt, mit dem Sohn als „Baby null“, der ersten Testperson.

Schikane im Gefängnis 

„Die Wärter zertraten ihre Niveadose. Sie kippten ihre Schachtel mit Georgia-O’Keefe-Blumenpostkarten aus, die verstreut auf dem Boden landeten. Sie zerrissen die Buchrücken ihrer aus der Gefängnisbibliothek ausgeliehenen Hardcover.“ Der Alltag im Frauengefängnis ist schikanös. 

Solche Besuche sind obligatorisch, wenn eine Insassin gestorben ist, durch eine Überdosis, durch Suizid, durch Mord. Leichensäcke rollen immer wieder auf einer Trage durch die Gänge. 

Unter den Gefangenen gelten ungeschriebene Regeln, es gibt feste Hierarchien. Als sie sich in den Drogenhandel einmischt, wird Miranda im Duschraum beinahe umgebracht.

Ausweg durch Selbstmord

Aber sie findet auch eine enge Freundin, die ehemalige Army-Soldatin April wird zu ihrer „kleinen Schwester“. Wegen kleinerer Verfehlungen landet Miranda für 14 Tage in einer Isolationszelle. 

Durch einen Fensterspalt starrt sie auf ein Stück Himmel, nach kurzer Zeit ist sie „in einer quälenden Endlosschleife gefangen“. Sie beschließt, das Gefängnis „auf leichte Tour zu verlassen“, per Selbstmord.

Den Gefängnistherapeuten sucht sie nur deshalb auf, um sich das hochwirksame Schlafmittel Elavil verschreiben zu lassen, das sie in einem hohlen Plastikkleiderbügel in ihrer Zelle für den Tag X hortet. Dieser Plan ist Mirandas Geheimnis in der asymmetrischen Zweierbeziehung mit Frank.

Soziologischer Blick

Debra Jo Immergut, die als Korrespondentin des „Wall Street Journal“ in Berlin gearbeitet hat, veröffentlicht mit „Die Gefangenen“ ihr literarisches Debüt. Sie steigt tief hinab in die Psyche ihrer Protagonisten, die Verhältnisse in der Haftanstalt beschreibt sie mit soziologischem Interesse. 

Der harte Realismus, mit dem sie auch vom Leben draußen, im kaputten New York der neunziger Jahre, erzählt, wechselt mit tastenden, sonnendurchfluteten oder sepiafarbenen Rückblenden.

Allerdings schafft es die Autorin nicht, die Vieldeutigkeit und Spannung ihrer Sprache zu halten. Zum Ende des Buches verrutschen Skizzen von Nebenfiguren ins Klischeehafte, manche Metapher wirkt gestanzt.

Mit Schicksal abgefunden

Irgendwann scheint Miranda sich mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben. Die Hoffnung, dem Knast entkommen zu können, gibt sie auf. Nun will sie „dort blühen, wohin du gepflanzt wirst“, und beginnt, Alphabetisierungskurse für Gefangene zu geben. 

Doch Frank, ihr Therapeut, bedrängt sie. „Wir holen dich hier raus“, sagt er. Seine Worte sind mehr Befehl als Angebot. Am leichtesten hinaus, weiß Frank, kommt man durch die Krankenstation. Der Weg dorthin führt über Tabletten. 
Debra Jo Immergut: Die Gefangenen. Roman. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Penguin, München 2020. 300 Seiten, 20 €

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