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Die Aktivistin und Politikwissenschaftlerin Emilia Roig, 37.

© Mohamed Badarne/Aufbau Verlag

"Why We Matter" von Emilia Roig: Neue Blicke und eine andere, bessere Welt

Wie Unterdrückungssysteme funktionieren, und warum Minderheiten zugehört werden sollte: Emilia Roigs biografischer Essay „Why We Matter“.

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Es beginnt mit einer Fliege im Arbeitszimmer, die zunächst stört und in der Regel, wenn nicht nach draußen verscheucht, deshalb auch getötet wird. Doch die Berliner Politikwissenschaftlerin und Aktivistin Emilia Roig geht zu der Fliege eine richtiggehende Beziehung ein.

Sie gewöhnt sich an sie, gibt ihr einen Namen, akzeptiert sie als Begleiterin: „Der neue Blick auf die Fliege erlaubt mir, sie als lebenswert zu sehen – genauso wertvoll wie ich.“

Dann fährt Roig in ihrem Buch „Why We Matter“ (Aufbau Verlag, Berlin 2021. 384 Seiten, 22 €.) fort mit den Worten, dass es unerträglich sei, „nicht gesehen, nicht gehört zu werden“, dass genau das mit Menschlichkeit kaum was zu tun habe.

Weil diese nicht gesehenen, nicht gehörten Menschen „vielen Formen von Gewalt“ ausgesetzt seien, „bis hin zum Mord“. Roig geht es in ihrem Buch darum, „Unterdrückung sichtbar zu machen“, die Unterdrückung von Minderheiten, Frauen, People of Color, indigenen Völkern, Schwulen, Lesben, trans Personen oder Menschen mit Behinderung, um nur einige zu nennen.

Dabei mischt sie in „Why We Matter“ bewusst wissenschaftliche Erkenntnisse beispielsweise aus der kritischen Rassismusforschung, aus der Intersektionalitätstheorie oder aus postkolonialen Theorien mit ihrer eigenen Biografie: Roig, 1983 in Frankreich geboren, ist Tochter eines weißen Algeriers mit jüdischem Hintergrund und einer Schwarzen aus Martinique, die sich 1977 in Französisch-Guyana kennenlernten und 1980 in der Nähe von Paris niederließen.

"Ziemlich beste Freunde" produziert diskrimininierende Rollenklischees

Sie beschreibt sich als „Produkt des französischen Kolonialismus“ und stammt aus einer Familie mit rassistischen Einstellungen: Ihr Großvater väterlicherseits war aktiver Anhänger des „Front National“, auch die Großmutter riet ihrem Sohn, Roigs Vater, er solle aufhören, Beziehungen zu Schwarzen und „exotischen Frauen“ einzugehen. 

Der Liebe zu ihren Enkeln hat das keinen Abbruch getan: „Gleichzeitig“, so Roig über den inzwischen verstorbenen Großvater, „war er ein sehr lieber Opa und hat mich und meine Schwestern wie seine anderen Enkelkinder behandelt, die weiß sind.“

Beginnend damit, wie strukturelle Diskriminierung funktioniert, welche Dimensionen sie beinhaltet (individuelle, institutionelle, historische), unternimmt Roig, man kann es nicht anders sagen, einen Parforce-Ritt durch verschiedenste Unterdrückungssysteme: Medien, Gesundheitssystem, Schule, Universität, die Wissenschaften, die Justiz mitsamt angeschlossenem Polizeiapparat.

Auch den rassistisch-diskriminierenden Alltag auf der Straße hat sie im Blick. Roig erklärt, wie politisch Schönheitsideale sind oder was die Empathielücke ist: Zum Beispiel glauben die meisten Weißen, dass Schwarze weniger Schmerzen empfinden. Oder wie teilnahmslos die europäischen Gesellschaften die vielen toten Geflüchteten auf dem Mittelmeer akzeptieren.

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Sie legt dar, was Empathie von Mitleid unterscheidet oder warum ein Film wie „Ziemlich beste Freunde“, so humorvoll und menschelnd er ist, diskriminierende Rollenklischees reproduziert: hier der gebildete, reiche Weiße, dort der grobe, einfache, immer gut gelaunte Schwarze, der durch den Kontakt mit der Hochkultur zivilisiert wird. Roig sieht den Erfolg des Films nicht zuletzt darin begründet, dass er „eine Bestätigung der Normen und der sozialen Hierarchien“ sei, „die wir seit der Kindheit verinnerlicht haben“.

In der Regel werden diese Normen von den Weißen bestimmt, soziale Hierarchien von den weißen, westlichen Mehrheitsgesellschaften errichtet, weshalb Roig sich ausführlich weißen Privilegien widmet, der weißen Zerbrechlichkeit und warum es keinen Rassismus gegen Weiße, also „umgekehrten“ Rassismus gibt.

Vieles, was die Gründerin und Direktorin des Berliner Center for Intersectional Justice erläutert, hat man in ähnlich gewichteten Essays schon gelesen.

Doch imponiert der quasi ganzheitliche Zugriff von Roig, die Tiefe, die sie manchen ihrer Überlegungen auch unter Einbeziehung der eigenen Vita gibt, ihre utopischen Ansätze, etwa wenn sie die Arbeitsgesellschaft infrage stellt oder überlegt, wie es ohne Polizei und Gefängnisse aussehen könnte. Ihre Forderung lautet, „uns von der Welt, wie wir sie kennen, loszulösen“, und vor diesem Hintergrund passt es natürlich perfekt, dass dieser Pandemie-Tage die Sehnsucht groß ist nach einer Prä-Corona-Normalität.

Roig weiß auch um ihre eigenen Privilegien

Nur ist diese Normalität, das demonstriert Roig, eben bevorzugt eine privilegierte weiße, die wiederum die Diskriminierung und die Unterdrückung von Minderheiten mit einschließt.

Wobei sie auch um die Mischformen von Privilegien weiß, auch bei sich selbst: „Ich bin von Rassismus, Sexismus, Queer- und Lesbenfeindlichkeit und ein wenig auch vom Antisemitismus betroffen, und gleichzeitig bin ich aufgrund meiner sozioökonomischen Situation, meines französischen Passes, meiner Nichtbehinderung, meiner helleren Hautfarbe innerhalb der Schwarzen Community, meiner Dünnheit, aber auch der Tatsache, dass ich eine cis-Frau bin, privilegiert. Aus meiner gelebten Erfahrung und Identität ergibt sich eine Vermischung von Benachteiligung und Unterdrückung.“

Gegen Ende wird es etwas arg spirituell und wabernd, da geht es auch um Astrologie, Parapsychologie und die „Einheit der Menschheit“, um den „Funken der göttlichen spirituellen Energie“ und die Allmacht der Liebe“.

Doch findet Roig immer wieder zurück in die theoretische Spur und markiert auch noch einmal präzise das „Wir“, von dem sie irritierend oft spricht, irritierend deshalb, weil es nicht die Mehrheitsgesellschaft meint, sondern das Wir, das im Titel ihres Buches steht: Schwarze, Frauen, nicht-binäre Menschen, trans Menschen, behinderte Menschen, Migrantinnen, Geflüchtete, Lesben, Schwule oder Queers, all die, „die als unterlegen konstruiert wurden“.

Deutschland werde ihn und „meine strukturelle Kritik nie wieder los“, hat Mohamed Amjahid in seinem Buch „Der Weiße Fleck“ geschrieben. Diese Worte verbinden sich gut mit Roigs Untersuchung, sie laufen im Subtext von „Why We Matter“ ständig mit. Die Welt, wie wir sie kennen, muss neu gestaltet und gedacht werden, und Roig beteiligt sich daran mit diesem Langessay bisweilen durchaus inspirierend.

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