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Mit den Mitteln von Joyce. Der Schweizer Schriftsteller Reto Hänny, 72.

© Ayse Yavas

Neuer Roman von Reto Hänny: Der lange Flug

Abschweifender Sprachluftschiffer: Der Schweizer Schriftsteller Reto Hänny setzt mit „Sturz“ sein autobiografisch grundiertes Lebenswerk fort.

Man darf sich den Schweizer Schriftsteller Reto Hänny als einen „abschweifungsvernarrten Sprachluftschiffer“ vorstellen. So porträtiert sich zumindest der Ich-Erzähler seines neuen Romans „Sturz“, ein Alter Ego des Autors. Dieser Erzähler verfügt nicht nur über einen langen epischen Atem, sondern imaginiert auch mit einer grimmigen Entschlossenheit sein Leben als einen Rundflug durch ein Jahrhundert Schweizer Geschichte.

Vor 35 Jahren hat dieses autobiografisch grundierte Lebenswerk begonnen, als Hänny den Roman „Flug“ schrieb, seinem ersten Versuch, das „Schwitzerland“ mitsamt seinen reaktionären Stimmungslagen aus der Distanz zu topografieren und in einer ekstatischen Prosa den Ausbruch aus der Enge des Landes zu proben.

Der Traum von Ikarus

Bereits in diesem ersten Roman schickte Hänny seinen Erzähler auf einen Flug über die Alpen und erzählte zum Auftakt eine Urszene der Technikgeschichte, den ersten Flug über den Ärmelkanal durch den französischen Luftfahrtpionier Louis Blériot im Juli 1909. Ein Mann fährt da zu Beginn zur Nebenpiste eines Flughafens, um in einer kleinen Propellermaschine die Alpen zu überqueren.

Während der Wartezeit auf den Abflug erweitert sich der Raum des Erzählens zur Erinnerung an das Urbild des „ikarischen Traums“, den historischen Flug Blériots.

Dessen Flug steht im alten wie im neuen Roman für die Hybris aller Fortschrittspropheten, die sich, angefeuert durch die Prediger einer brutalen Avantgarde, nicht nur an einer Begeisterung für die Technik, sondern auch an der „Schönheit des Krieges“ berauschen wollen.

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Auf einer zweiten Ebene durchquert Hännys Erzähler in „Flug“ wie in „Sturz“ den Luftraum, um in der eigenen Vergangenheit zu landen, in seiner Schulzeit in Chur, der Hauptstadt des Kantons Graubünden und in seiner Kindheit in den Bergen. Der zarte, büchervernarrte Hütebub droht in der rauen patriarchalen Welt der Dörfler unterzugehen.

Der böse Großonkel zerbricht ihm den Spielzeugpropeller, mit dem sich der Junge in die Lüfte erheben wollte. Aber da sind der Großvater Neni und später der segensreiche Lehrer Cla Biert, die den Buben ermuntern und ihn zu literarischem Selbstbewusstsein animieren.

Mit „Sturz“ liegt also ein überaus ambitionierter Entwicklungsroman vor, den Hänny nun zum dritten Mal überarbeitet hat, nachdem es bereits 2007 eine zweite Fassung von „Flug“ in der Bibliothek Suhrkamp gegeben hatte. Hännys neues Opus ist nun mit 584 Seiten fast doppelt so umfangreich geworden wie das Ursprungswerk, was der Satzbildungs-Virtuosität des Autors zugute kommt, aber nicht unbedingt der Lesbarkeit des Romans.

Seine Texte sind subtile Überarbeitungen

Alle Texte von Hänny seit seinem 1981 publizierten Debüt „Zürich, Anfang September“ sind das Ergebnis von subtilen Überarbeitungsprozessen. Und in allen seinen Büchern spielen Meisterwerke der modernen Literatur, Musik und Malerei eine tragende Rolle, fungieren als Katalysatoren des eigenen Schreibens.

Es hätte der Nachbemerkung des Autors nicht bedurft, um zu sehen, wie in umfangreichen Partien des Romans der omnipräsente „Ulysses“ von Joyce, Grass’ „Blechtrommel“ oder auch Peter Weiss´ Mikrobeschreibungs-Prosa „Der Schatten des Körpers des Kutschers“ zu Antriebsenergien werden, denen Hänny in reminiszierenden Satzkaskaden folgt.

[Reto Hänny: Sturz. Das dritte Buch vom Flug. Roman. Matthes & Seitz, Berlin 2020. 584 Seiten, 36 €.]

Leider wird er oftmals dabei auch vom Versuch getrieben, die labyrinthisch verästelten Satzgebirge des Vorbilds Joyce noch einmal in extrem ausschweifenden Satzarchitekturen zu überbieten. Dieses virtuose Zelebrieren von Sprachmusik hat etwas Vorsätzliches, bemüht Demonstratives, sodass man mitunter den Eindruck gewinnt, hier habe ein glühender Anhänger der alten Avantgarde noch einmal in seinen Baukasten des artistischen Raffinements gegriffen. Die Sätze aus „Flug“, die in „Sturz“ teilweise fortgeschrieben und durch zahlreiche Parenthesen erweitert werden, haben an Länge, Rhythmisierung und Ausdehnung gewonnen, aber nicht immer an sinnlichem Klangzauber oder gar an Prägnanz.

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Es sind dann auch weniger die kunstvollen Nachahmungen der Erzähltechniken von Joyce oder Grass, die beeindrucken, sondern die Darbietung unglücklicher Lebensläufe in den Bündner Bergdörfern. Das ländlich-bäurische Leben in der Abgeschiedenheit erscheint hier mitunter als grausiger Totentanz, als beklemmende Chronik von Sterbeprozessen.

Einige randscharfe Kindheitsbilder des Romans entwickeln sich zudem zu einer Ästhetik des Schreckens – etwa wenn Hänny von den alltäglichen Prozeduren des Schlachtens und Ausweidens von Schweinen berichtet, die in grausamen Ritualen von den Kindern der Dorfgemeinschaft nachgespielt werden. Da stockt einem bei der Lektüre der Atem.

Die Schweiz ist ein Gefängnis, dessen Gefangene Wärter sind

Kein Zweifel, Hänny gelingt es, sich mit seiner komplexen Sprachmusik weit von jener „gendergerechten Bachelor-Literatur“ zu entfernen, die er in einem Roman-Anhang verspottet. Diesen polemischen „Anhang“ nutzt er freilich auch, um noch einmal die Kritik seiner großen Vorgänger Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt an den „Hohlformen helvetischer Gesellschaft“ zu wiederholen.

Fast triumphal repetiert er die Diagnose Dürrenmatts, der 1990, kurz vor seinem Tod, die Schweiz mit einem Gefängnis verglich, dessen Gefangene gleichzeitig ihre eigenen Wärter seien. An dieser fatalistischen Diagnose will der 72-jährige Hänny 2020 festhalten. So lässt er seinen Helden am Ende seines Flugs denn auch auf dem Wasser zerschellen. Gegen den helvetischen Kulturzerfall mobilisiert Reto Hänny das ganze Hochkunst-Repertoire der klassischen Literaturmoderne. Auf diese Weise schwer beladen, gewinnt sein zweimotoriges Propellerflugzeug manchmal kaum an Höhe.

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