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Die amerikanische Schriftstellerin Ling Ma. Sie wurde 1983 in der chinesischen Provinz Fujian geboren.

© Anjali Pinto/Verlag

„New York Ghost“ von Ling Ma: Der Kapitalismus ist die Pandemie

Der Roman „New York Ghost“ erzählte schon 2018 brillant vom Leben im pandemischen Chaos. Dann wurde das Debüt von Ling Ma von der Wirklichkeit eingeholt. Jetzt ist es auf Deutsch erschienen.

Ein Graffito, gesehen an einer Berliner Hauswand: „Corona ist das Virus, der Kapitalismus die Pandemie.“ Fraglos verkürzt, agitatproppig obendrein, doch diese Diagnose hat sich zumindest als prüfungswürdig eingeprägt. Wie sich herausstellt, lässt sich auf ihr ein ganzer Roman errichten – der erstaunlicherweise weder selbstgerechte noch didaktische Züge trägt.

„New York Ghost“ ist das Debüt der 1983 in der chinesischen Provinz Fujian geborenen und in den USA aufgewachsenen Schriftstellerin Ling Ma. Ihr Roman erschien im Original schon im Jahr 2018, also zwei Jahre vor Beginn der Coronavirus-Pandemie.

Woran sich die Frage anschließt: Wie liest man eine Fiktion, die vom Weltgeschehen scheinbar überholt worden ist? Candace Chen, Ling Mas Ich-Erzählerin, betreut in einem New Yorker Buchverlag die Produktion kitschiger Bibelausgaben mit Fake-Edelsteindekor. Fabriziert wird das Wort Gottes im ostchinesischen Shenzhen, das dank seines Sonderzugangs zum Weltmarkt binnen Jahrzehnten vom Fischerörtchen zur Zwölf-Millionen-Metropole expandiert ist, billige Arbeitskräfte bietet und via Hongkong bestens an den globalen Handel angeschlossen ist.

Im Frühjahr 2011 bricht in Shenzhen infolge der schlechten Arbeitsbedingungen das „Shen-Fieber“ aus (eine aus heutiger Sicht ziemlich Trump’sche Namensgebung), das bald auch die USA erreicht. Beim Lesen stellt sich unweigerlich ein wissendes Vergnügen ein, wenn Details sich durch das Coronavirus scheinbar verifiziert haben.

Die Reisen von Arbeitsmigranten zum chinesischen Neujahr werden zum Infektionstreiber. Arbeitgeber grummeln beim Thema Homeoffice. Es gibt Maskengegner. „Wir waren bei Wut, die Langsameren von uns hinkten noch beim Leugnen hinterher.“

Von China in die USA

Aber Literatur ist keine Wettervorhersage und die positivistische Lesart die langweiligste. Lohnender ist der Blick auf Ling Mas vielschichtige Metaphorik, die neben der deutlichen Kapitalismuskritik auch eine schmerzend ehrliche chinesisch-amerikanische Identitätssuche entwirft. Der Roman wechselt kapitelweise zwischen der Zeit vor und nach dem Ausbruch der Seuche, dem „ENDE“.

Vorher: Candace’ Paarundzwanziger-Alltag in New York, Büropolitik, Beziehungen, eine ungeplante Schwangerschaft. Nachher: der Überlebenskampf in einem Amerika, das in seiner Menschenarmut an Cormac McCarthys postapokalyptischen Roman „Die Straße“ erinnert. Gibt es da draußen noch weitere Überlebende? Ist ihnen zu trauen?

[Ling Ma: New York Ghost Roman. Aus dem Englischen von Zoë Beck. CulturBooks Verlag, Hamburg 2021. 360 Seiten, 23 €.]

Wie in Susan Sontags klassischer Kurzgeschichte „Wie wir jetzt leben“ über die HIV-Epidemie der achtziger Jahre sprechen in „New York Ghost“ stets die, die nicht krank sind. Über sie wird geurteilt, sich gesorgt, ihr Ableben wird beschlossen, doch sie selbst bleiben stumm: „Wörter verschwanden oft als Erstes, wenn man fieberte.“

Candace ist trotz gesundheitlicher Unversehrtheit einst Ähnliches passiert. Vor ihrem Umzug in die USA mit sechs Jahren ist sie, wie Ling Ma, in Fujian aufgewachsen. Ihre lückenhaften, auf eigene Art sprachlosen Kindheitserinnerungen gehören zu den stärksten Passagen des Romans: „Mir fiel auf, dass ich von keinem einzigen meiner Verwandten den vollständigen Namen wusste. Ich sprach sie immer nur mit der Familienbezeichnung an. Der erste Onkel, die zweite Tante, meine Großmutter.“

Unterwegs durch Tschernobyl-Manhattan

Der Text ist von der Culture-Books-Verlegerin und Krimischriftstellerin Zoë Beck, die zuletzt selbst mit „Paradise City“ einen Pandemie-Roman veröffentlicht hat, überzeugend ins Deutsche übersetzt worden. Vor allem die Beschreibungen des gespenstischen New York lösen eine visuelle Lust aus: Man möchte es sehen, dieses Tschernobyl-Manhattan, in dem Pferde, die eben noch Touristen durch den Central Park kutschierten, die urbane Wildnis erkunden. Als der öffentliche Nahverkehr aussetzt, zieht Candace kurzerhand in ihr Büro am Times Square. Ihre Vorgesetzten sind längst sonstwo, die Partner in China haben andere Sorgen.

Erst läuft die Welt aus dem Ruder und dann auch noch der Arbeitsvertrag aus. Die Angst packt Candace erst, als Letzteres geschieht. Sie schließt sich einer Gruppe an, deren Anführer Bob erklärt, man sei die „göttliche Auslese“ und die „Fiebernden“ müssten „erlöst“ werden. Die Infizierten werden dürr und neigen zur geistlosen Repetition. Bei einer Hausplünderung beobachtet Candace, wie eine Frau den Tisch deckt, ein Abendessen simuliert, den Tisch wieder abdeckt – und von vorn beginnt. „In den Augenblicken, bevor wir schossen, sahen sie uns mit Krokodilsaugen an, bemerkten, wie anders wir waren.“

Stimmt das? Die zum Selbstzweck verkommenen Rituale sind schließlich ein Echo von Candace’ Arbeit zwischen Fahrstuhl, Kopierer, Schreibtisch und der Herstellung ewiggleicher Evangelien mit wechselndem Einband. Der Roman lässt einen gerade deshalb erschrecken, weil die verlorene Welt nicht sonderlich attraktiv ist. Die Sehnsucht nach ihr besteht darin, besser schlecht zu leben. Insofern ist das „ENDE“ kein völliger Umbruch.

Was bleibt sind die Rituale des Kapitalismus

Die strenge Nützlichkeit, die es zum Überleben braucht, zumal im Mieten-Moloch New York, war längst da. Die Gruppe um Bob bezieht schließlich „die Anlage“, eine verlassene Mall in Illinois. Ihre Wohnungen sind die skelettierten Räume von Apple Store, Gap, Abercrombie & Fitch und L’Occitane. Und ihre erste Handlung nach dem Einzug besteht vielsagend darin, Süßigkeiten aus einem Automaten zu ziehen – so wie in McCarthys „Straße“ eine Coca-Cola-Dose in den Resten eines abgebrannten Supermarktes zum Souvenir einer vorapokalyptischen Heimat wird.

Dystopienliteratur dient der Identifikation. Dem Grusel auch, sicher. Aber der Schrecken wäre ein Bettlakengespenst, würden wir uns nicht in ihm erkennen. „New York Ghost“ lässt sich mit und ohne Corona spüren. Das verweist auch darauf, dass der robustere Rahmen unseres „Jetzt“ vermutlich nicht die Pandemie ist, sondern eine entfesselte Arbeits- und Handelskultur.

Was bleibt in Ling Mas Horrorvision? Die Rituale des Kapitalismus. Der US-Evangelikalismus. Die Fernsehserie „Friends“. Und endlich, unverhofft, wie in Cormac McCarthys Vater-Sohn-Beziehung die Liebe eines einsamen Elternteils zu seinem Kind, hier einem ungeborenen – die nukleare Einheit in Candace’ ruinös-unsozialen Leben.

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