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Kultur: Poesie in Sichtbeton

Kaum ein anderes Baumaterial hat die Architektur seit dem Ende des 19.Jahrhunderts so nachhaltig revolutioniert wie der Beton.

Kaum ein anderes Baumaterial hat die Architektur seit dem Ende des 19.Jahrhunderts so nachhaltig revolutioniert wie der Beton.An den Fassaden wird er allerdings meist schamhaft unter einer respektheischenden Verkleidung aus Granit oder Sandstein unterschiedlichster Provinienz versteckt.Nach seiner zweifelhaften Blüte im Brutalismus der sechziger und siebziger Jahre ist der Sichtbeton ziemlich aus der Mode gekommen.Mit der Fassade ihres ARD-Hauptstadtstudios am Reichstagufer tritt das Architekturbüro Ortner und Ortner Baukunst zusammen mit Hanns-Peter Wulf jedoch den Beweis an, daß man auch dem guten alten Beton eine geradezu poetische Qualität abringen kann, vorausgesetzt man versteht es, ihn richtig zu handhaben.

Die Lochfassade des ARD-Hauptstadtstudios, das sich in malerischem Schwung an die Spree schmiegt, besteht aus Betonfertigteilen unterschiedlicher Größe.Ihr Fugenspiegel zeichnet nicht nur ein feines graphisches Muster in die Fassadenoberfläche.In den beiden oberen Geschossen dient er ebenso wie die verspringenden Fensterachsen dazu, den Funktionswechsel vom Radio- zum Fernsehbereich im Inneren des Gebäudes auch von außen ablesbar zu machen.

Am Reichstagufer sind die Öffnungen der Lochfassade bündig mit Glasflächen abgeschlossen und schützen so die Büros vor Lärm und Witterung.Erst dahinter schließen sich in einer zweiten Fassadenschale dunkle Holzfenster an.Doch die Konstruktion solch einer derzeit beliebten doppelten Fassadenschale reicht Ortner und Ortner noch nicht aus.Sie verleihen dem Bau eine zusätzliche Raffinesse, indem sie die gläserne Schale nicht über die gesamte Fassadenöffnung legen.Ein schmaler, wie aus dem Beton herausgeschälter senkrechter Streifen, der sich bis auf das dunkle Holz der zweiten Fassadenschale herabsenkt, bleibt jeweils ausgespart.Dadurch wird die Betonfassade rhythmisiert und erhält eine zusätzliche Reliefebene.

Zu den besonderen Qualitäten des Neubaus gehört seine Fähigkeit, sich trotz seiner innovativen Formensprache in das von Paul Spieker Ende des 19.Jahrhunderts errichtete Ensemble der technisch-naturwissenschaftlichen Institute der Berliner Universität einzupassen.Mit seiner terrakottaroten Fassade orientiert sich das ARD-Hauptstadtstudio am Farbton der angrenzenden Altbauten des späten Schinkelschülers.Ein mit 18 Meter Traufhöhe deutlich niedriger ausgeführter Wohntrakt am Reichstagufer greift die historische Parzellenstruktur auf und schafft zugleich eine optische Anbindung an den angrenzenden Altbau.Eine weitere Reminiszenz an die frühere Bebauung bildet der Graben, der den Neubau an Reichstagufer und Wilhelmstraße vom Gehweg trennt.Er sollte bei dem kriegszerstörten "Physikalischen Institut" für eine Reduzierung der Schwingungen des Straßenverkehrs sorgen, um eine Beinträchtigung der Arbeit der komplizierten technischen Instrumente im Gebäude zu verhindern.Die Fassade zur Wilhelmstraße dient der ARD zur Selbstdarstellung.Für die große Glasfläche unterhalb des TV-Studios an der Gebäudeecke hat der Kölner Video-Künstler Egbert Mittelstädt ein aus Kunststofflamellen komponierte Variante des bekannten ARD-Logos geschaffen.

Auch im Inneren des Gebäudes setzt sich die differenzierte, auf Farbkontraste ausgerichtete Materialauswahl fort.Im Erdgeschoß wurde schwarzer belgischer Granit für die Verkleidung der Wände des Foyers gewählt, die angrenzenden Ladenlokale und Besprechungsräume dagegen präsentieren sich mit freundlich hellem Birkenholz.Erstaunen löst die mit einem ungewöhnlichen blauen Stoffpolster verkleidete Decke des Foyers aus.Der Besucher ahnt, daß ihm in diesem Gebäude wohl noch eine Überraschung bevorsteht.Vom ARD-blauen Fußboden geleitet, gelangt man über eine schmale Treppe mit nüchternen Betonwangen hinauf zum glasüberdachten Lichthof.Spätestens hier verschlägt es dem Besucher den Atem.Gläserne Brücken, die für die interne Verbindung zwischen den beiden Gebäudeflügeln sorgen, kreuzen den sich trichterförmig weitenden Raum.An der Rückseite ragen gläserne Besprechungsräume in den Lichthof hinein.Den Clou aber bilden die 120 Zentimeter breiten und 330 Zentimeter hohen Paneele aus golden schimmernder Messingtresse.Sie sind an den laubengangartigen Galerien vor den Büros und Studios befestigt.Mit ihren flirrenden Lichtreflexen verleihen sie dem Raum eine fast schon barocke Pracht und süffige Lust an der Farbe.Das Spiel aus Licht und Material schafft eine in der Ratio-dominierten Architektur Berlins all zu oft entbehrte Atmosphäre von Sinnlichkeit.Hinter den wiederum mit hellem Birkenholz verkleideten Türen der Arbeitszimmer verbergen sich die mit der notwendigen Studiotechnik ausgestatteten Redaktionsräume für 40 Rundfunk- und 22 Fernsehjournalisten.

Das ARD-Hauptstadtstudio liegt unmittelbar an der zukünftigen Politiker Rennstrecke zwischen Reichstag und Presse- und Informationsamt, das kaum hundert Meter entfernt - ebenfalls am Reichstagufer - im kommenden Jahr vollendet wird und soeben bei der Bundestagswahlberichterstattung seine Feuertaufe erlebte.Allerdings sollte man sich im Hauptstadtstudio mit dem Probebetrieb, der am 1.März 1999 beginnen soll, beeilen, will man den derzeit unverbauten Blick aus dem Studiofenster auf den Reichstag für den ersten "Bericht aus Berlin" noch einfangen.Denn inzwischen wächst das benachbarte Jakob-Kaiser-Haus - ehedem als "Dorotheenblöcke" geläufig - nach längerer Bauverzögerung täglich ein Stück weiter empor.Ist der Komplex mit den Bundestagsbüros erst fertiggestellt, dann wird vom großen Fernsehstudio des Hauses aus höchstens noch der rechte Turm des Reichstags zu sehen sein.Bleibt nur zu hoffen, daß sich das Hauptstadt-TV der ARD bis dahin genauso sinnlich präsentiert wie der Bau, in dem es produziert wird.

JÜRGEN TIETZ

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