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Armando (Wagner Moura) kehrt in seine Geburtsstadt Recife zurück und gerät in eine politische Verschwörung.

© Port au Prince Pictures

Polit-Thriller „The Secret Agent“ im Kino: Die blutigen Spuren der brasilianischen Geschichte

Nachbeben der Bolsonaro-Jahre. Das politische Kino Brasiliens zeigt sich gerade so kraftvoll wie lange nicht mehr. Der zweifache Cannes-Gewinner „The Secret Agent“ ist ein erzählerisches Wunderwerk.

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Armandos Rückkehr an seinen Geburtsort Recife fällt nicht besonders herzlich aus. Als er mit seinem knallgelben VW Käfer an einer Tankstelle anhält, liegt auf dem Asphalt eine Leiche, nur notdürftig verhüllt mit einem Stück Karton. Er solle sich keine Sorgen machen, meint der Tankwärter achselzuckend, der Tote läge da schon seit ein paar Tagen, die Polizei sei gerade zu beschäftigt. Es ist Karneval, und das Regime nutzt den Trubel der Feierlichkeiten, um politische Gegner zu beseitigen.

Auch die Polizisten, die kurz darauf halten, interessieren sich mehr für Armando als für die Leiche. Sie prüfen halbherzig seine Papiere, schnorren eine Packung Zigaretten und machen einen Spruch über seine langen Haare. Schließlich fahren sie wieder, tatenlos.

„The Secret Agent“ von Kleber Mendonça Filho beginnt wie ein früher Film der Coen-Brüder. Die Gewalteskalation unter dem brasilianischen Militärregime wird mit fast komischer Stoik kaum zur Kenntnis genommen, business as usual. Aber der Tote außerhalb des Bildes verleiht dem lakonischen Dialog zwischen den Polizisten und dem Neuankömmling einen bedrohlichen Unterton.

Es ist das Jahr 1977, die Militärdiktatur zieht die Schlinge immer enger um alles, was irgendwie nach Opposition aussieht. Die Allianzen, die den Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ordnung begünstigen, haben sich verfestigt: Es geht schon lange nicht mehr nur gegen den politischen Gegner, alle bereichern sich in dem korrupten System.

„The Secret Agent“ gewann den Regie-Preis in Cannes

So präzise wie die Eröffnungsszene von „The Secret Agent“ inszeniert ist, so offen lässt der brasilianische Regisseur, der beim Filmfestival in Cannes mit dem Regie-Preis ausgezeichnet wurde, in den ersten knapp anderthalb Stunden (sein Film dauert 158 Minuten), in welche Richtung sich die Geschichte entwickeln wird.

Unklar bleibt lange auch, warum Armando nach Recife zurückgekehrt ist. „Narcos“-Star Wagner Moura, der in Cannes ebenfalls ausgezeichnet wurde, spielt ihn verschlossen und mit einer Melancholie im Blick, als müsse er ein schmerzvolles Geheimnis vor der Welt verbergen. Die Kombination aus Filmtitel und Zeitkolorit deutet auf das Genre des Polit-Thrillers hin, aber auch das erweist sich bald – wie die Agentfilmmelodie – als Finte.

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Eine paranoide Grundstimmung schwingt in den panoramischen Panavision-Bildern von Kamerafrau Evgenia Alexandrova mit. Konterkariert wird das latente Unbehagen durch die saturierten Farben, die eher an den gegenkulturellen Idealismus der Tropicalismo-Bewegung der späten 1960er Jahre denken lassen. So wie mit den Stimmungen spielt Mendonça auch mit den Genres: Die Verunsicherung ist auf allen Ebenen von „The Secret Agent“ intendiert.

Die politische Situation in Brasilien wirkt fragil und gefährlich, und genauso klandestin entspinnt sich auch die Ankunft des Mannes, der sich jetzt Marcelo nennt, aber in einem früheren Leben Armando hieß. Im Haus der resolut-herzlichen Dona Sebastiana (Tânia Maria) benutzt aus Sicherheitsgründen niemand seinen oder ihren richtigen Namen: Claudia (Hermila Guedes), Haroldo (João Vitor Silva) und die Angolanerin Thereza Vitória (Isabél Zuaa) sind politische Exilanten auf der Flucht.

In der Herberge von Dona Sebastiana hat sich eine Schicksalsgemeinschaft eingefunden, die in „The Secret Agent“ die Rolle einer Ersatzfamilie übernimmt. Vage bleibt lange, welche Umstände Armando in diese Gesellschaft verschlagen haben. Seinen achtjährigen Sohn Fernando, der nach dem ungeklärten Tod von Armandos Frau Fátima (Alice Carvalho) beim Schwiegervater Señor Alexandre (Carlos Francisco) lebt, kann er nur heimlich besuchen.

Viel Geduld für die politischen und sozialen Verflechtungen

Die Menschen, die Armando beschützen, haben ihm eine Stelle im Einwohnermeldeamt von Recife besorgt, wo er die verschwundene Geburtsurkunde seiner Mutter sucht. Die Behörde fungiert als inoffizieller Außenposten des jovialen Polizeichefs Euclides (Robério Diógenes), der ebenfalls ein persönliches Interesse an Armando hat.

Politisches Exil. Im Haus von Dona Sebastiana hat sich eine Schicksalsgemeinschaft versammelt.

© Port au Prince Pictures

Der ehemalige Filmkritiker Mendonça, der 2020 der Berlinale-Jury angehörte, nimmt sich viel Zeit, um diese politischen und sozialen Verflechtungen zu entwickeln, die im Streamingzeitalter für eine ganze Serienstaffel reichen würden. Doch „The Secret Agent“ fühlt sich nie überladen an, er bleibt bei aller Freude am Fabulieren dicht und höchst spezifisch in seinen Beobachtungen.

Da ist der kriegsversehrte Schneider Hans, gespielt von einem großartig bärbeißigen Udo Kier, den Euclides Armando wie eine Kuriosität vorführt. Der Polizeichef hält den Deutschen für einen geflüchteten Nazi-Helden, ohne zu begreifen, dass der Jude ist und nur knapp dem Konzentrationslager entkam. Hans macht sich mit seinen Angestellten auf Deutsch über die Ignoranz des Polizisten und seiner beiden Söhne lustig, aber die kurze Vignette verdeutlicht en passant, welche Seilschaften in Brasilien der 1970er Jahre am Werk sind.

Von seiner Kontaktperson Elza (Maria Fernanda Cândido) erfährt Armando, dass zwei Killer, ein Söldner (Roney Villela) und sein junger Protegée, auf ihn angesetzt sind. Ihr Auftraggeber ist der Energie-Magnat Ghirotti (Luciano Chirolli), der Armando um seine Forschungen an der Universität gebracht hat – und für den Tod von Fátima verantwortlich ist. Elza will Armando in einer Art Zeugenschutzprogramm unterbringen, muss vorher aber seine Aussage aufnehmen.

Brasiliens jüngere Geschichte ist voller offener Wunden

Das Gespräch findet im Vorführraum von Señor Alexandres Kino statt. (Das Publikum strömt gerade in „Der weiße Hai“.) Das Kino als Ort, an dem Vergangenheit und Gegenwart zusammenlaufen, ist ein folgerichtiger Gedanke im Werk von Kleber Mendonça Filho, dessen jüngster Film „Pictures of Ghosts“ von 2023 an die glorreiche Ära der Kinopaläste von Recife erinnerte.

So verflicht Mendonça in „The Secret Agent“ mit einer unglaublichen Präzision und Geduld seine Jugenderinnerungen an das Kino mit der brasilianischen Gewaltgeschichte, die bis heute viele Leerstellen und offene Wunden aufweist. Fast vierzig Jahre später sind es – in der Rahmenhandlung des Films – die Aufnahmen dieses Gesprächs zwischen Armando und Elza, die in den Händen einer Geschichststudentin (Laura Lufési) landen.

Armando (Wagner Moura) muss auf der Hut sein vor Killern, die ihm nach dem Leben trachten.

© Port au Prince Pictures

Flavia versucht mithilfe der Audio-Kassetten und ein paar Zeitungsausschnitten herauszufinden, was Ende der 1970er Jahre mit Armando geschah. Aber ihre Recherche stellt sich als nahezu unmögliches Unterfangen heraus. Auch der inzwischen erwachsene Fernando (ebenfalls gespielt von Wagner Moura) hat keine Erinnerungen an seinen Vater.

In der Figur Armando laufen viele Fäden der brasilianischen Geschichte zusammen, die sich irgendwann aber wieder verlieren. Auch darum legt Mendonça wenig Wert darauf, die turbulenten politischen 1970er Jahre als stringenten Thriller zu erzählen. Er folgt lediglich Spuren.

Sein Landsmann Walter Salles hat im vergangenen Jahr mit dem Familiendrama „Für immer hier“ einen anderen, konventionelleren – wenn auch nicht weniger überzeugenden – Ansatz gewählt, um die Folgen der Militärdiktatur auf das gesellschaftliche Leben im Brasilien der 1970er Jahre zu erzählen. Salles hat einen hochemotionalen Zugang zur brasilianischen Geschichte, vermengt mit autobiografischen Erinnerungen.

Bei Mendonça äußern sich diese in einem topografischen Interesse an seiner Heimatstadt und seiner Liebe für das Kino. Dafür nimmt „The Secret Agent“ einige erzählerische Umwege in Kauf: etwa eine Tabloid-Schlagzeile um ein aus dem Leichenschauhaus verschwundenes „haariges Bein“, das nachts ein mörderisches Eigenleben entwickelt – inklusive Slasherfilm-Ästhetik.

Dieser Horrorfilm-im-Film ist aber mehr als bloß der kuriose Exkurs eines Filmnerds. Die Vignette stellt auf für Mendonça typisch-unernste Weise eine Verbindung in die jüngere Vergangenheit Brasiliens her, als unter Jair Bolsonaro Fake News – von politischer Unterdrückung und Korruption ganz zu schweigen – ihr Unwesen trieben. „The Secret Agent“ ist voll von solchen „Geisterbildern“ aus der brasilianischen Geschichte. Oder höheren Eingebungen: In dem Kino, in dem der echte Señor Alexandre einst arbeitete, befindet sich heute ein Krankenhaus.

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