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Venedig im Februar 2023.

© REUTERS/MANUEL SILVESTRI

Proustbetrieb: Tizian, Carpaccio und die Pflastersteine

Das Venedig-Kapitel gehört zu den Höhepunkten von Marcel Prousts „Recherche“ - auch weil sich der Erzähler hier aus seiner „inneren Bleikammer“ löst und zum Künstler wird.

Ein Kommentar von Gerrit Bartels

Die Venedig-Episode in der „Flüchtigen“ ist einer der Höhepunkte in Prousts „Recherche“. Vorbereitet wird sie lange, lange vorher, denn die unebenen Bodenplatten im Baptisterium von San Marco gehören zu den Epiphanien des Erzählers. In der „Wiedergefundenen Zeit“ erinnert er sich im Hof der Guermantes mit seinen schiefen Pflastersteinen daran, unwillentlich, beim Stolpern. Für ihn ein Auslöser dafür, nun endlich mit dem Schreiben zu beginnen.

Häufig ist vom ersten Band der „Recherche“ an von einer Reise nach Venedig die Rede, allein wegen des Tizians in der Frari-Kirche! Doch es klappt erst zu dem Zeitpunkt, da die Gleichgültigkeit Marcels gegenüber Albertine weit fortgeschritten ist.

Allein in dieser verzauberten Stadt

Was Proust, der im Jahr 1900 zweimal in Venedig war, mit Marie Nordlinger und Reynaldo Hahn auf den Spuren des Kunstkritikers John Ruskin sowie einmal allein, was er also schließlich seinen Erzähler in der Lagunenstadt sehen lässt, ist zunächst das, was auf jedem touristischem Zettel steht.

Immer wieder die Gegend um den Markusplatz, (Proust wohnte 1900 nicht weit entfernt im Hotel Danieli, wie Jahrzehnte zuvor Ruskin), immer wieder Markusdom, Piazetta, Dogenpalast, Canal Grande, die Gondeln. Und wenn er dann allein „in dieser verzauberten Stadt“ unterwegs ist und sich „inmitten ganz unbekannter Viertel“ wie eine Figur aus „Tausendundeiner Nacht“ fühlt, bleibt er eher unbestimmt. Mal ist von einem „Netz kleiner Gässchen“ die Rede, mal von Plätzen, die sich öffnen und „von bezaubernden Palästen“ eingefasst werden.

Doch viel wichtiger sind ja auch die Marmor- und Glasmosaiken des Bodens im Baptisterium von San Marco, die Gemälde von Veronese, Tizian und insbesondere Carpaccio, dessen „Ursulalegende“-Zyklus (auf dem er seine Mutter personifiziert, eine Frau mit roten Wangen, traurigen Augen und in schwarzen Schleiern) und „Das Wunder der heiligen Kreuzreliquie“ (wo er das Modell von Albertines Fortuny-Mantel entdeckt).

In Venedig scheint dem Erzähler das Combray seiner Jugend wider. Hier löst er sich endgültig von Albertine, aus den berühmten „Bleikammern“ seines „inneren Venedigs“. Er lernt eine junge Österreicherin kennen, verliebt sich in eine Glaswarenverkäuferin, deren Schönheit er mit einem „wahren Tizian“ vergleicht, sehnt sich überhaupt nach Frauen.

Weshalb er länger bleiben will als vorgesehen, auch um sich einem vermeintlichen elterlichen „Komplott“ zu widersetzen. Die emotionalen Stürme, die Marcel dann erlebt, als seine Mutter ohne ihn zum Bahnhof fährt, um abzureisen, gehören mit zum Dramatischsten in der ganzen „Recherche“ – unvergesslich.

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