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Reality-Show „Squid Game: The Challenge“: Weniger real geht es kaum
Gewinnen oder sterben war die Devise in der erfolgreichsten Netflix-Serie aller Zeiten. Der neue Reality-Ableger mit Rekordpreisgeld enttäuscht.
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Wenn es darum geht, Kapitalismuskritik in bezahlte Abos zu verwandeln, macht Netflix keinem was vor. Die südkoreanische Thrillerserie „Squid Game“ von 2021 ist bis heute das weltweit meist geschaute Format des Streaming-Anbieters. Darin treten 456 Menschen im Kampf um über 30 Millionen Euro in vermeintlichen Kinderspielen gegeneinander an – mit dem entscheidenden Twist, dass Verlierer nicht nur aus dem Spiel, sondern auch aus dem Leben scheiden. Für die Chance, ihrer existentiellen Perspektivlosigkeit zu entkommen, nehmen die Kandidaten selbst den Tod in Kauf.
Die fiktionale Auseinandersetzung mit realen Zuständen in kapitalistischen Systemen fand schnell ihren Weg in die Wirklichkeit zurück. Auf Schulhöfen, auch in Berlin, begannen Kinder und Jugendliche, Spiele aus der Serie, die von Netflix explizit erst ab 16 Jahren empfohlen wird, nachzustellen. Eltern und Lehrer waren alarmiert, Psychologen warnten vor seelischen Schäden.
Das höchste Preisgeld aller Zeiten
Vielleicht hat sich Netflix von dieser Überführung in die Realität inspirieren lassen – jedenfalls gab die Firma einige Monate später bekannt, dass man einen Reality-Ableger der Serie produzieren würde. Auch dafür wurden exakt 456 Kandidaten gecastet, sie spielen um 4,56 Millionen Dollar. Mehr Teilnehmer und ein höheres Preisgeld gab es bisher in keiner anderen Reality-Show auf der Welt.
Sterben sollte hier indes niemand, doch während der Produktion Anfang des Jahres berichteten mehrere Teilnehmer von „unmenschlichen“ Bedingungen am Set. Unter anderem beklagten sie, dass man während eines Spiels stundenlang bei niedrigen Temperaturen quasi bewegungslos habe ausharren müssen, Einsätze von Sanitätern seien häufiger nötig gewesen. Netflix und die verantwortlichen Produzenten wiegelten ab.
In dem fertigen Produkt deutet, wie zu erwarten, nichts mehr darauf hin, dass an den Berichten etwas dran sein könnte – ohnehin stellt sich nicht das Gefühl ein, dass an dieser Reality-Show auch nur irgendetwas tatsächlich real wäre. Das ist ein Trend, der sich in dem Genre aktuell generell feststellen lässt. Der Vorwurf, dass an solchen Shows mehr geskriptet ist, als den Zuschauern suggeriert wird, ist nicht neu. Dass sich Protagonisten allerdings durchgehend in Hochglanz-Ästhetik durch Sets bewegen, die Lifestyle-Magazinen entsprungen sein könnten, wie zum Beispiel in „Selling Sunset“ bei Netflix, oder den neuen Hulu-Staffeln von „Keeping Up with the Kardashians“, ist noch mal eine neue Ebene auf der Künstlichkeits-Skala.
Im Fall von „Squid Game: The Challenge“ liegt die artifizielle Optik freilich in erster Linie an dem Bezug zur Vorlage. Das Setdesign, die Ausstattung, die Kameraarbeit und der Soundtrack sind der Mutterserie direkt entsprungen. Auf diese Weise inszeniert, wirken auch die Kandidaten wie Schauspieler. Was an einen zweiten Vorwurf ausgeschiedener Teilnehmer denken lässt: TikTok und Instagram-Influencer seien bevorzugt behandelt worden, um sie länger im Wettbewerb zu halten.

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Ob das nun stimmt, ob die Produzenten vielleicht sogar wirklich Schauspieler eingeschleust, oder ihre Kandidaten einfach entsprechend gecastet und instruiert haben, dass es am Ende so wirkt, spielt eigentlich keine Rolle: Das Ergebnis ist eine Distanz zu den Agierenden, die für Reality-Shows Gift ist.
Die Spieler performen bühnenreif
Im ersten Spiel, auf das sich auch die Klagen beziehen, müssen die 456 Kandidaten in einer bestimmten Zeit eine Strecke von circa hundert Metern zurücklegen. An der Ziellinie steht eine riesige Gruselpuppe, und nur wenn diese sich umdreht und ein Liedchen erklingen lässt, dürfen sich die Kontrahenten bewegen. Wer nach Verstummen noch zuckt, wird „eliminiert“. Vermutlich platzt in diesem Moment eine Farbpatrone in der Kleidung der Betroffenen, jedenfalls sieht es so aus, als würden sie (wie in der Serie) von Scharfschützen erschossen, auch wenn hier schwarzes statt rotes „Blut“ fließt. Hat es einen Spieler erwischt, sackt dieser, wie von der tödlichen Kugel getroffen, bühnenreif in sich zusammen.

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Solche Performances und die fast gänzliche Abwesenheit spontaner emotionaler Reaktionen wirken dem Reality-Effekt ebenso entgegen wie die Tatsache, dass man über das Leben dieser Menschen kaum mehr erfährt als Eckpunkte, die sie als Stereotype etablieren. Der niveaulose Sportler, die unsichere Blondine, die fürsorgliche Mutter. Da schaut man doch lieber das „Dschungelcamp“, wo sich die Kandidaten ihre Skripts im Kopf immerhin selbst schreiben und genau damit letztlich tief blicken lassen.
Ob man aus Reality-Shows viel über das Leben lernen kann, sei mal dahingestellt. Die Produzenten jedenfalls tun gerne so – auch hier. Über moralische Anwandlungen, wie die monoton vorgetragene Erkenntnis einer Kandidatin, ihr Scheitern verdient zu haben, weil sie vorher einen Gegner nach Hause geschickt hatte, zuckt man in Erinnerungen an Mathieu Carrière und Sarah Knappig, die am australischen Lagerfeuer einst leidenschaftlich über Ehre und Verrat lamentierten, hier nur müde mit der Augenbraue.
Spannend ist die Netflix-Show trotzdem, dafür sorgt schon allein das Spielkonzept in Kombination mit dem Rekordpreisgeld. Die Vorfreude auf eine zweite Staffel der fiktionalen Serie, die aktuell gedreht wird, steigt durch „Squid Game: The Challenge“ allerdings nicht.
Die zehn Folgen von „Squid Game: The Challenge“ sind ab sofort bei Netflix abrufbar.
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