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Kultur: Rebellion im Fegefeuer

Der Berliner Martin-Gropius-Bau zeigt politische Videokunst aus Russland.

Sie altern nicht. Niemals. Sie bekämpfen sich und bluten nicht. Töten sich und sterben nicht. Sie haben keine Vergangenheit, aber auch keine Zukunft. In dem Film „The Last Riot“ – der letzte Aufstand – verwandelt die russische Künstlergruppe AES+F den schnellen Kick der Computerspiele in einen ewigen Albtraum. Statt veritabler Rebellion, wie sie die Künstlerinnen von Pussy Riot proben, trifft der virtuelle Kampf nur noch das eigene Spiegelbild.

Im Martin-Gropius-Bau bildet „The Last Riot“ den Auftakt zu der Trilogie von AES+F. Mit drei Videoarbeiten geleiten die Künstler die Besucher durch Hölle, Paradies und Fegefeuer. Hinter dem sperrigen Label verbergen sich vier Namen. Tatiana Arzamasova, Lev Evzovich und Evgeny Svyatsky schlossen sich 1987 zusammen. Weil der Modefotograf Vladimir Fridkes erst acht Jahr später dazustieß, bildet sein Initial den Appendix. Alle vier Künstler sind Mitte fünfzig und haben sowohl den Untergang des Sozialismus als auch den Übergang in das digitale Zeitalter als gewaltigen Umbruch erlebt. Die Welt sei leer, meint Tatiana Arzamasova, aber im Kosmos existierten noch Splitter dieser leeren Welt. In ihren Filmen kondensieren die Künstler die virtuellen Fantasien, die in den letzten Jahren dominanter geworden sind.

Narzisstische und dekadente Bilderwelten umfangen die Besucher in der Rundprojektion des 2009 entstandenen Films „Das Gastmahl des Trimalchio“. Das Paradies befindet sich in einem Wellnessressort, in dem auftrumpfende Gäste vom unterwürfigen Personal umsorgt werden. In der Vorlage, dem Satyricon des römischen Autors Petronius, veranstaltet der ehemalige Sklave Trimalchio ein Gelage. Natürlich erkennt man in dem Film die Satire auf die Neureichen und ihre Frauen, die Oligarchen, die mit Golfschlägern und Bodyguards ihre Wichtigkeit unterstreichen. Doch die Ödnis dieses Lebens legt sich auch bleischwer auf den Film. Das Ballett der Eitelkeiten trudelt im Kreis.

Für ihre dritte, bildmächtigste Arbeit, die „Allegoria Sacra“, ließen sich AES+F inspirieren von Bellinis Gemälde, das in den Uffizien von Florenz hängt. Alte und junge Menschen warten auf einer Terrasse, einem künstlichen Raum am Ufer eines Flusses. Trotz der spielenden Kinder herrscht eigentümliche Reglosigkeit. AES+F interpretieren das surreal anmutende Gemälde als Sinnbild für das Fegefeuer. Am Flussufer entscheidet sich, in welche Richtung die Reise der Seelen geht, in die Hölle oder ins Paradies. Im Film wird der Ort in einen Flughafen verlagert, auf dem ebenfalls befremdliche Stille herrscht. Passagiere schlafen, träumen. Ein alter Mann stirbt und wird als Kind wiedergeboren. Der Heilige Sebastian strandet als Globetrotter. Glaube und Aberglaube, Bibel und politisches Pathos überlagern sich zu einer digitalen Oper. Manche Bildeinfälle erinnern an Matthew Barneys „Cremaster Cycle“. Das mag am gemeinsamen Vorbild Stanley Kubrick liegen. Anders als bei Barney ist der Kosmos von AES+F jedoch komplett elektronisch generiert. Nach drei Filmen erschöpft sich diese artifizielle Kunst, die in Zeitlupe unter einer Glasglocke taumelt. In ihrer Makellosigkeit unterscheiden sich die Splitter der Computerwelten kaum mehr voneinander. Hölle, Himmel, Fegefeuer, digital wirkt alles gleich. Simone Reber

Martin-Gropius-Bau, bis 3. Dezember, täglich außer Dienstag 10 - 19 Uhr

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