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Die spanische Sängerin Rosalía singt auf „Lux“ in 13 Sprachen.

© Sony

Rosalías beeindruckendes Album „Lux“: Die Pop-Revolution fällt aus

Rosalías viertes Album klingt anders als alles, was sie bisher gemacht hat. Das ist mutig und überwältigend, aber keine Neuerfindung des Pops. Warum man das Album des Herbstes trotzdem hören muss.

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Das Berghain existiert, manche kommen nicht rein, Sven Marquardt ist hin und wieder da, Ende. Eine Schlagzeile ist das jedenfalls nicht wert. Es sei denn, Rosalía tauft die einzige Auskopplung ihres vierten Albums „Lux“ nach dem Technotempel.

Plötzlich werden weltweit Artikel über das „Berghain“ geschrieben, und zwar so zahlreich, dass es einem dann doch schnell zum Halse heraushing. Was sich von dem Hype aber ableiten lässt: Alle sind plötzlich sehr fasziniert. Ein Indiz für den vernachlässigten Hunger nach Komplexität im Pop?

Drei Minuten Bombast und Überraschung

„Berghain“ ist nur knappe drei Minuten lang, feuert aber alles ab, was man von Rosalía nicht erwartet hätte: Es ist ein expressives Opernstück, das in seiner Eindringlichkeit an Carl Orffs „Carmina Burana“ und in den friedlicheren Sekunden an Vivaldi erinnert.

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Man hört ein Orchester und einen massiven Chor, der, genau wie Rosalías emporschwingende Arien, in deutscher Sprache erklingt. Was einem allerdings auch nicht weiterhilft: Weder hierzulande noch sonstwo versteht irgendjemand, was der Song inhaltlich soll. Es geht um einen Blei-Teddybär und Flammen, ums schwere Herz, Angst und Wut. Liebeslied oder Zeugnis eines intensiven Drogentrips? Man weiß es nicht!

Plötzlich setzt Björk ein, die den sowieso schon ätherischen Song noch weiter gen Himmel katapultiert, bevor Yves Tumor mit seinem Mantra „I’ll fuck you, till you love me“ alles wieder einfängt und zu einem Ende bringt.

„Berghain“: Der perfekte Vorbote

Spoiler Alert: Die Verwirrung wird nicht weniger, nachdem man sich „Lux“ in Gänze angehört hat. Man versteht aber, dass „Berghain“ der perfekte Vorbote zu Rosalías viertem Album ist. Es ist eine Platte, die das Spannungsfeld zwischen Klassik und Pop nicht nur auslotet, sondern damit überwältigt. Unterteilt ist das Album in vier „Movements“ genannte Kapitel, auf die sich 18 Songs verteilen. Das London Symphony Orchestra ist allgegenwärtig und sorgt für inbrünstige Arrangements, Pauken! Streicher! Bläser!

Rosalía hat sich ein Jahr lang intensiv mit 13 verschiedenen Sprachen beschäftigt, die perfekte Phonetik des Ukrainischen, Japanischen, Französischen, Arabischen, Hebräischen und Latein geübt. Sie ist immer wieder an ihre Texte gegangen, hat an ihnen gearbeitet, bis sie zufrieden war.

Im Interview mit Zane Lowe sagt die 33-Jährige, dass es sich bei „Lux“ um Maximalismus handele und es anders sei als alles Bisherige. Ihre Anfänge sind traditionell: An der Escuela Superior de Música de Cataluña in Barcelona, unweit ihres Geburtsorts, studierte Rosalía Flamenco. Ihre zweite Platte „El mal querer“ (2018) war gleichzeitig die Abschlussarbeit dieser Studien – und manifestierte Rosalía als Reformatorin des Flamenco.

2022 legt sie mit „Motomami“ nach: eine tanzbare Platte, die Rosalías Lust an Dekonstruktion feiert. Sie mischt darauf lateinamerikanische Stile wie Reggaeton und Bolero; zähflüssiger Trap verheiratet sich mit Flamenco und süßlichem Bachata. Eine, laut eigener Aussage, minimalistische Platte, die ihr Publikum in letzter Konsequenz herausfordern, es nicht zu sehr einlullen soll.

Menschlichkeit als Gegenentwurf

Dieser Vorsatz gilt auf „Lux“ nicht. Man soll sich dieser Musik ergeben, sie am besten am Stück hören, so wünscht es sich die Künstlerin. Dass dies im starken Kontrast zur gegenwärtig vorherrschenden Art der Medienrezeption steht, zur immer kürzer werdenden Aufmerksamkeitsspanne, lässt sie außer Acht – oder vertraut auf ihr Genie.

Rosalía scheint außerdem über den Regeln ihres eigenen Business zu stehen: In Zeiten, in denen Hits möglichst zahlreich und kurzlebig, Refrains möglichst TikTok-tauglich und Kreativität von Algorithmen bestimmt und demnächst sowieso von KIs übernommen wird, bringt sie ein Werk heraus, das in seiner Menschlichkeit unerschrocken ist.

Man hört Notenpapier rascheln, man spürt das Organische des Orchesters, die harte Arbeit in der Stimme Rosalías, im Song „Mio Cristo“, dem Höhepunkt der ersten Albumhälfte, durchbricht sie sogar die vierte Wand zum Publikum. Man hört, wie sie offenbar dem Produzenten den von ihr angestrebten Ausbruch des Orchesters erklärt: „And that’s gonna be the energy!“

Die Single „Berghain“ lenkte die Aufmerksamkeit der gesamten Pop-Szene auf das neue Album von Rosalía.

© Sony Promo

Rosalía gibt im Gespräch mit der „New York Times“ zu, dass das Album ein Risiko ist, auch ein finanzielles. Aber dass sie diese Platte nun mal machen musste, sich auf keinen Fall wiederholen wollte. Ob sie damit irgendeinen Labelboss zur Verzweiflung treibt, ist nicht bekannt.

Das Göttliche

„Lux“ bedeutet übersetzt Licht, und Rosalía macht kein Geheimnis daraus, dass sie damit das Göttliche meint. Es handelt sich um ein Album, das die Vertikale sucht, sagt sie der „NYT“. Sie habe in den vergangenen drei Jahren viel gelesen, Schriften zum Leben von Heiligen etwa. Fasziniert haben sie gelehrte Frauen, etwa Hildegard von Bingen, Rosalia von Palermo oder Jeanne d’Arc, nach der ein Stück auf dem Album benannt ist.

Im Song „Reliquia“ singt sie davon, dass sie zu sehr liebt und schnell ausgetauscht werden kann, der Begriff kommt aus der kultischen religiösen Verehrung. Der Titel des Songs „Dios Es Un Stalker“ („Gott ist ein Stalker“) braucht keinen weiteren Kommentar, und im bereits erwähnten „Mio Cristo“ singt sie von den diamantenen Tränen „ihres Christus“. Ein komplexer, spiritueller Überbau für ein Album, das so treffsicher mit den Emotionen seiner Hörenden spielt, dass es ihnen Tränen in die Augen treibt, auch wenn man kein einziges Wort des Gesungenen versteht.

Rosalía selbst möchte durch ihre Musik näher zu Gott finden, möchte Absolution, strebt Transzendenz an, sieht sich selbst aber auch als geborene Rebellin. Sie möchte Liebe, Glaube, Hoffnung, aber auch Vergnügen und Exzess, einfach alles! Auf dem Albumcover trägt sie ein zwiespältiges Outfit, das gleichsam Zwangsjacke und Nonnengewand sein kann.

Bereits in der Antike, später in der christlichen Tradition, galt der Künstler als Vermittler zwischen Himmel und Erde. Ist Rosalía auf genau dieser Mission unterwegs? Sieht sie sich als Prophetin? Immerhin trägt sie aktuell einen Heiligenschein auf dem Kopf, den sie sich hat in ihr Haar färben lassen.

Als Heilsbringerin kann man sie durchaus verstehen: Mit „Lux“ fordert sie die Grenzen dessen heraus, was Pop ist und vor allem sein könnte. Sie hat mit ihrem vierten Album aber keine Pop-Revolution gestartet, denn das, was sie darauf leistet, ist nichts, was ihr jemand nachmachen könnte.

Die Platte ist eine Utopie, die Rosalía in Musik übersetzt hat. Die Utopie einer Welt, in der Popmusik aufwändig und verschwenderisch ist und sich niemandem beugt, auch nicht dem Kapitalismus. Kreativität steht auf einem Podest und ist verwirrend, ist betörend, strebt nach Freiheit und ist vor allem unantastbar. Amen.

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