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Sarah Bernsteins Roman „Übung in Gehorsam“: Leiden als Akt der Selbstbehauptung
Die kanadische Schriftstellerin hat mit ihrem für den Booker Prize nominierten Buch eine zeitlose und parabelhafte Geschichte geschrieben.
Stand:
Das Trauma ist seit einigen Jahren ein äußerst beliebtes Sujet in Kulturprodukten. Eine Figur hat Schlimmes erlebt, leidet deshalb unaufhörlich und findet nur durch Überwindung größter innerer wie äußerer Widerstände Erlösung.
Dieser Plot ist inzwischen in Filmen, Serien und Romanen so verbreitet, dass er ein eigenes Genre begründet: „Torture porn“ nennt man spöttisch solche Kulturprodukte, die zur Unterhaltung ihr Personal durch die Hölle schicken.
Die kanadische Schriftstellerin Sarah Bernstein schließt hier scheinbar mit ihrem für den Booker Prize nominierten Roman „Übung in Gehorsam“ an. Ihre namenlose Erzählerin wird seit jeher von ihrem Umfeld gedemütigt und ausgegrenzt. In der Familie steht sie ihren zahlreichen Geschwistern zu Diensten, in der Schule, im Studium und im Job wird sie entweder gemobbt oder missachtet.
Die Geschichte setzt ein, als sie in eine Kleinstadt in einem Land im Norden zieht, um ihren kranken Bruder zu pflegen. Schon in jungen Jahren hat er sie ausgenutzt, nun verleiht er ihre Arbeitskraft auch noch an die Bürger der Stadt, die sich gerne von ihr bei der Landwirtschaft helfen lassen, ihr aber ansonsten mit Ekel, Wut und Furcht begegnen.
Die Übel miterleiden
Und das Opfer? Stimmt kräftig mit ein in das Misstrauen und die Verachtung, die ihr entgegenschlagen. Findet alle Welt sie schwach, hinterlistig und zu nichts nutze, so setzt sie dieser Kritik immer noch einen drauf und hofft insgeheim auf eine baldige Erlösung ihres erbärmlichen Daseins.
Kurzum: Exemplarischer könnte die Biographie für einen solchen Torture-Porn-Plot gar nicht ausfallen, wenn da nicht etwas ganz Entscheidendes fehlen würde: Sympathie. Der Lustgewinn der Leserschaft liegt für gewöhnlich eben an dem Mitleiden am Übel, das der Figur widerfährt, wofür diese aber erst einmal hinreichend schützenswert erscheinen müsste.
Sarah Bernstein aber wahrt Distanz, sie hält ihre Protagonistin stilistisch geschickt außer Reichweite aller Emotionen. Eher zur Kenntnis denn zu Herzen nimmt man also die Aneinanderreihung erlittener Bösartigkeiten. Zwar spricht die Erzählerin direkt und auch lebhaft zu ihrer Leserschaft, was aber keineswegs Nähe fördert und Empathie begründet.
Ein Roman als Lehrstunde
Nein, hier gibt es nichts zu fühlen, dieser Roman ist stattdessen eine Lehrstunde. Und das didaktische Konzept ist das eines Rätsels, hier soll man Indiz für Indiz auf den Weg der Erkenntnis gelockt werden. So bringt Bernstein erst nach einiger Zeit den wichtigen Hinweis ins Spiel, dass die Erzählerin Jüdin ist, womit sich das Verhalten ihrer Umwelt als ziemlich klassischer Antisemitismus erweist.
Bemerkenswert daran: Während Judenhass heutzutage eine definitorische Herausforderung zu sein scheint, es also in vielen Debatten darum geht, herauszufinden, hinter welchem Protest, welcher Kritik er sich verbirgt und hinter welchen Aussagen eben nicht, wird er in dieser Geschichte auf geradezu traditionelle Weise ausgelebt. Die Stadtbewohner machen die Erzählerin für das Sterben ihres Viehs verantwortlich und sie haben Angst davor, dass sie ihren Kindern etwas antut.
Überlebensschuld-Syndrom
„Übung in Gehorsam“ strebt also ins Zeitlose und Parabelhafte, wofür auch spricht, dass das Land, in dem die Handlung spielt, nur schemenhaft beschrieben wird. Wie aber ist die Zustimmung der Erzählerin zu ihrer Verachtung zu erklären, ihr gründlicher Selbsthass, dieser rätselhafter Ich-Verlust?
Einiges deutet auf das „Überlebensschuld-Syndrom“ hin, jenes Phänomen, das bei vielen Holocaust-Überlebenden beobachtet wurde und das sich durch Scham darüber ausdrückt, anders als so viele andere, das Grauen überstanden zu haben. Im Falle der Erzählerin datiert dieses Grauen sogar vor ihrer Geburt. Der Großvater der Familie entkam einst einem Pogrom in jener Stadt im Norden und wanderte aus. Nur dank seiner glücklichen Rettung konnte sie überhaupt auf die Welt kommen.
Komplizierte Hölle
Eine Welt, die für sie die Hölle ist, allerdings eine komplizierte Hölle, denn dieser kurze, aber komplexe Roman funktioniert eben nicht allein auf der psychologischen Ebene. Mindestens auch ein bisschen Soziologie braucht man hier noch.
Der Andere ist in vielen Gesellschaftsmodellen notwendige Voraussetzung für den Zusammenhalt und das Funktionieren der sozialen Ordnung. Seine Ausgrenzung definiert die essentielle Grenze des Gemeinwesens.
Das Fremde, wie es in Gestalt der Jüdin, hier auftritt, erweist sich mithin als geradezu konstitutiv für die Stadtgesellschaft. Die Pointe, die Bernstein dieser Leidensgeschichte entlockt, liegt darin, dass ihre Erzählerin genau aufgrund ihrer Funktion als Opfer eine herausgehobene Position einnimmt.
Wie eine Dompteurin hält sie schließlich die Stadt in Schach, spielt mit dem dort grassierenden Hass und der Angst. Auch Leiden, so stellt man mit Verblüffung auf den letzten Seiten fest, kann ein Akt der Selbstbehauptung sein.
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