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Kultur: Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft

Moskau - geschlossene Stadt. Über die Endzeitstimmung im 1945 von der Roten Armee eingekesselten Berlin wissen wir aufgrund tausender Augenzeugenberichte und Tagebucheintragungen bestens Bescheid.

Moskau - geschlossene Stadt. Über die Endzeitstimmung im 1945 von der Roten Armee eingekesselten Berlin wissen wir aufgrund tausender Augenzeugenberichte und Tagebucheintragungen bestens Bescheid. Ähnlich verhält es sich mit Warschau, wo 1944 polnische Aufständische verbluteten, während am östlichen Weichselufer sowjetische Truppen untätig abwarteten. Ebenso minutiös ist rekonstruiert worden, wie Paris durch das Eingreifen des Diplomaten Otto Abetz beim Abzug der Wehrmacht vor der Zerstörung bewahrt wurde. Doch über das Leben in der russischen Hauptstadt während des Zweiten Weltkriegs ist hierzulande nur wenig bekannt. Diese Lücke will die Ausstellung "Moskau im Krieg" schließen, die im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst pünktlich zum 60. Jahrestag des Vorstoßes der Wehrmacht auf die sowjetische Kapitale eröffnet wurde.

Am 22. Juni 1941 begann der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. Stalin wurde durch diesen Bruch des deutsch-russischen Nichtangriffspakts von 1939 völlig überrascht: Der Tyrann überließ es seinem Außenminister Molotow, die Kriegserklärung im Radio zu verkünden, und wandte sich erst nach elf Tagen an sein Volk. Die unheilvoll drohende Atmosphäre des 22. Juni hat niemand besser als der sowjetische Fotograf Jewgeni Chaldei festgehalten, der vier Jahre später den flaggenhissenden Rotarmisten auf dem Reichstag aufnehmen sollte. Er lichtete Moskauer ab, die nach feindlichen Flugzeugen am Himmel Ausschau halten. Das berühmte Motiv ziert Plakat und Katalog der Ausstellung. Aber ohne Hinweis auf das Datum seiner Entstehung bleibt es stumm.

Die Rote Armee war auf den Angriff vollkommen unvorbereitet. Zwar rechnete Stalin mit einem Krieg gegen Hitler, doch glaubte er, noch jahrelang Zeit zur Aufrüstung zu haben. Erst vier Jahre zuvor hatte er in den so genannten Säuberungen ein Viertel des Offizierskorps liquidieren lassen, was die Ausstellung in einem Nebensatz versteckt. Entsprechend hastig fielen die Gegenmaßnahmen aus. Am 23. Juni wurden alle Reservisten eingezogen und das Oberkommando "Stawka" gebildet, eine Woche später das Staatliche Verteidigungskomittee GKO. Bereits am 24. Juni begann die Evakuierung von Zivilisten: Binnen eines Monats mussten 1,4 Millionen Moskauer ihre Stadt verlassen. Anfang September waren es bereits mehr als zwei Millionen, die Hälfte der damaligen Einwohnerschaft.

Doch Moskau war ebenso ein Zentrum der Rüstungsindustrie. In größter Eile demontierte man Maschinen und Anlagen, transportierte sie mit der Bahn nach Osten und baute sie meist hinter dem Ural wieder auf. Bis Ende November wurden auf diese Weise fast 500 Betriebe komplett verlegt. Eine gigantische Materialschlacht: An manchen Tagen wurden bis zu 5000 Waggons mit Industrieanlagen abgefertigt. Den Schutz der Hauptstadt sollten Jagdbataillone, ein Volksaufgebot und die Luftabwehr übernehmen, die aus Freiwilligen zusammengestellt wurden. Der Vormarsch der Wehrmacht schien allerdings zunächst unaufhaltsam. Am 15. Oktober befahl das GKO, den sowjetischen Regierungsapparat und ausländische Missionen nach Kuibyschew an der Wolga zu evakuieren und vor dem Einmarsch der Deutschen die Infrastruktur Moskaus zu sprengen. Panik machte sich breit: Geschäfte wurden geplündert, der Geheimdienst NKWD musste die Zugänge zu den Bahnhöfen bewachen. Die Unruhen endeten erst, als vier Tage darauf der Belagerungszustand verhängt wurde. Beruhigend wirkte auf die Bevölkerung, dass Stalin in Moskau blieb, sich im Kreml verschanzte und ihn allenfalls bei Fliegeralarm verließ, um sein unterirdisches Arbeitszimmer in der Metrostation Kirowskaja aufzusuchen. Die spärlichen Bombenangriffe der deutschen Luftwaffe richteten nur geringe Schäden an. Deutsche Panzer rollten jedoch bis auf 25 Kilometer an Moskau heran.

Wie Napoleons Armee kamen Hitlers Truppen erst kurz vor der Stadtgrenze zum Stehen. Und diese historische Parallele als Menetekel ihrer baldigen Niederlage bemühte Stalin, als er am 7. November die traditionelle Truppenparade auf dem Roten Platz zum Jahrestag der Oktoberrevolution abnahm. Seine Ansprache schloss mit den Worten: "Lasst die großen Bilder unserer großen Vorfahren Alexander Newski, Dimitrij Donskoj, Kusma Minin, Dimitrij Poscharski, Alexander Suworow und Michael Kutusow vor eurem inneren Auge aufleben. Sie sollen eure Führer in diesem Kriege sein." Indem der Diktator die siegreichen Feldherrn des alten Russlands beschwor, vollzog er eine ideologische Wende um 180 Grad. Das Zarenreich wurde fortan nicht mehr verdammt, sondern als Vorbild gepriesen, um den Kampfeswillen der Bevölkerung zu stärken: Einzig der Rückgriff auf den russischen Nationalismus sicherte der Sowjetunion das Überleben. Im Dezember gelang es der Roten Armee, die Deutschen um mehr als 100 Kilometer zurückzuschlagen. Stalins epochale Rede, vielleicht die wichtigste seines Lebens, wird indes in der Ausstellung mit keinem Wort erwähnt. Ihrem erklärten Anliegen, das Moskauer Alltagsleben während des Krieges darzustellen, wird die Schau ebenfalls nicht gerecht. Dies liegt an ihrer Materialgrundlage: Sie stützt sich vorwiegend auf Leihgaben des Staatlichen Historischen Museums in Moskau. Das hat wenig Aussagekräftiges beigesteuert: Kopien offizieller Bekanntmachungen, Propagandaplakate, ein paar Fotos und private Habseligkeiten. Denn die Darstellung des Zweiten Weltkriegs ist in Russland bis heute kanonisiert.

Als die Glorifizierung der Oktoberrevolution unglaubwürdig wurde, erhob die KPdSU den "Großen Vaterländischen Krieg" zum Gründungs- und Rechtfertigungsmythos der Sowjetunion. Noch das Mitte der neunziger Jahre eröffnete Kriegsmuseum Poklonnaja Gora im Westen Moskaus präsentiert eine Trophäenschau und Jubelorgie über geniale Strategen und todesmutige Soldaten. Erinnerungen, die das erbauliche Bild stören könnten, bleiben ausgeblendet. Diese verzerrte Perspektive macht sich das Museum in Karlshorst bedauerlicherweise zu eigen. Wer wissen will, wie es in der russischen Hauptstadt zu Kriegszeiten wirklich zuging, sollte lieber einen alten Moskauer fragen.

Oliver Heilwagen

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