zum Hauptinhalt

Deutsche Oper: Schlingensief: Götter, Gräber und Versehrte

Wie ein Team Christoph Schlingensiefs Ideen zur „Jeanne d’Arc“-Uraufführung umsetzt: Ein Probenbesuch an der Deutschen Oper.

Die Musiker sollen auf die Zinnen, das wäre schön. Noch stehen die vier Trompeter auf der Tribüne, mitten im Gewusel der „Triumph“-Szene. Aber nun möchte das Regieteam, dass sie auf die Wachtürme klettern und ihre Fanfaren von oben schmettern. Dummerweise sind die Wachtürme vier rollende, mit Stoffbahnen versehene Stahlgerüste; die Trompeter blicken hinauf und zögern. Nein, es geht nicht, hinter dem Stoff ist es zu dunkel, sie brauchen Licht für die Noten. Kurze Diskussion zwischen den Bühnenmusikern, der Regie-Assistenz und Dirigent Ulf Schirmer im Orchestergraben, man einigt sich schnell. Wenn sie Licht kriegen, geht's vielleicht doch.

Freitagmorgen an der Deutschen Oper Berlin. Die Kunst in den Grenzen des Machbaren – diese knifflige Kompromisssuche prägt auch die Probe von Walter Braunfels’ „Jeanne d’Arc“-Oper. Auf der Drehbühne tummeln sich zwischen Stahlgerüsten und allerlei mobilem Gerät Sänger und Statisten. Eine Rollstuhlprozession rollt vorbei, ein Erzbischof im Hermelinmantel taucht auf, ein König mit Pappkrone kniet vor einer riesigen Reliquie (das Herz der Heiligen?), und die heilige Johanna wird vom Hospitanten markiert – Mary Mills, die Sängerin der Johanna, ist heute erkrankt. Bei der Premiere kommen noch echte Tiere hinzu, Hühner, Ziegen und eine Kuh.

Opernalltag, möchte man meinen. Dabei herrscht hier der Ausnahmezustand, in vielfacher Hinsicht. Erstens wird mit „Jeanne d’Arc – Szenen aus dem Leben der heiligen Johanna“ am kommenden Sonntag eine vor 70 Jahren entstandene Oper szenisch uraufgeführt. Das Werk des unter den Nazis in die innere Emigration zurückgezogenen Komponisten Walter Braunfels wurde nach dem Krieg zu Unrecht vergessen oder als eklektizistisch abgetan.

Zweitens heißt der Regisseur des Märtyrer-Mysterienspiels vom Bauernmädchen Johanna, das Orleans befreit und als Ketzerin auf dem Scheiterhaufen endet, Christoph Schlingensief. Der ist seit seinem Bayreuther „Parsifal“ und seinem „Fliegenden Holländer“ im brasilianischen Dschungel Spezialist für Passionsspiele an der Kultstätte Oper sowie für unsterbliche Tote. Drittens kann er wegen einer Erkrankung nicht selbst proben und hat seine Ideen einem Team überantwortet: Carl Hegemann, Anna-Sophie Mahler und Sören Schuhmacher. Und viertens taugt Kunst bekanntlich nicht zur Basisdemokratie, ein Regietrio ist also keine einfache Sache.

Aber Ausnahmezustand bedeutet eben auch, dass das Wissen um die Besonderheit der Situation alle zusammenschweißt. Zumal hier keine Sänger wie weiland in Bayreuth den Diven-Aufstand gegen unkonventionelle Inszenierungsmaßnahmen proben. Und zumal weder Schlingensief noch sein Team die Oper zertrümmern möchten. Also geht dieser Probenvormittag entspannt und vertrauensvoll über die Bühne.

Wenig später sitzt das Trio gutgelaunt in der Kantine und erklärt, wie man zu dritt Chef sein kann. Klare Arbeitsteilung: Carl Hegemann ist der Chaostheoretiker und Schlingensief-Vertraute, der mit dem Regisseur nicht nur den Wuschelkopf gemeinsam hat, sondern auch die katholische Kindheit („er in Oberhausen, ich in Paderborn“) und turbulente Jahre an der Berliner Volksbühne. Anna Mahler ist die Chaospraktikerin mit Urwald-Erfahrung; sie war mit in Manaus. Und Sören Schuhmacher ist der Diplomat, als Oberspielleiter Intimus und Autoritätsperson am Haus. Alle drei kennen sich aus Bayreuth, dem Schauplatz von Schlingensiefs Opern-Initiation.

Die Drehbühne als Arena und Agora. Der scheinbar improvisierte Kunstverhau. Die kleinwüchsigen Darsteller der Schlingensief-Family. Die flackernden Video-Projektionen zum Stationendrama in drei Akten namens „Berufung“, „Triumph“ und „Leiden“: typisch Schlingensief, denkt man. Auf der Bühne sind die Insignien für Politik und Religion, Krankheit und Mitleid, Tod und Erlösung unübersehbar. Johanna breitet die Arme zum Kreuz aus, im ersten Akt werden unentwegt Totenbahren herbeigetragen und Holzstöße zur Leichenverbrennung geschichtet, und am Hof des französischen Königs sitzen die Granden beim Abendmahl, während der Mann in der Mitte in luftiger Höhe am Haken schwebt. Elevation!

Das alles stand so oder ähnlich in Schlingensiefs Partitur-Notizen, als Mitte Februar die Entscheidung fiel, die Arbeit im Team fortzuführen. Es gab eingeklebte Bilder, Stichworte wie „Jesus fliegt weg“, „Jakobus in Horrorpose“ oder „Rollstuhlballett“. Eine Woche lang setzten sich die drei für die Ausarbeitung der Assoziationen zusammen, und auch seit Probenbeginn Mitte März halten sie Kontakt zu Schlingensief als spiritus rector . Aber nicht zu intensiv, wegen des allseits gewünschten Freiraums. Denn am Ende verantwortet das Dreierteam die Inszenierung. Ansonsten bleibt alles, was mit Schlingensiefs Gesundheitszustand zu tun hat, bitte privat.

Carl Hegemann sagt es so: „Man macht es immer mit der Vorstellung: Fertig wird es sowieso nicht. Da sind Löcher drin.“ Zum Beispiel die Videoprojektionen. Die Bilder vom Kloster im Urwald, von nepalesischen Totenzeremonien, die Schlingensief dort zum Jahreswechsel gefilmt hat, Ausschnitte aus frühen „Jeanne d’Arc“-Verfilmungen, aber auch mikroskopische Aufnahmen von Blutkörperchen, Zellstrukturen oder aufplatzenden Blütenknospen – sie sind vorläufig. Work in progress: Was bei der Premiere über die Bühne flackern wird, weiß im Moment nicht einmal das Videoteam.

Hegemann nennt Braunfels’ Oper eine „Passion der Ambiguität“, ein „polymorphes Hochamt“. Zwar kulminiert in der „Triumph“-Szene mit Bischof und Reliquienaltar das Römisch-Katholische, aber Schuhmacher verweist auf die Vielfalt der religiösen Anspielungen in den übrigen Akten, von den Totenkulten in Nepal, wo die Leichen auf offener Straße verbrannt werden, bis nach Brasilien. Ein Synkretismus, der die süffige und doch rezitativisch klare Musik kongenial ergänzt. Zwar scheut Braunfels die Avantgarde, aber die musikalischen Strömungen der Weimarer Republik, vom frühen Schönberg bis zum Musicalsound, hat er berückend amalgamiert.

Carl Hegemann findet es aufregend, wie der Antifaschist Braunfels, der vom Judentum zum Katholizismus konvertierte und dennoch von den Nazis kaltgestellt wurde, die Johanna-Verräter mitten in den lateinischen Kinderchor hineinstellt. Darüber könnte man jetzt stundenlang reden, über Transzendenz und Säkularisierung, Wunder und den Aberglauben der Wissenschaft. Was man glauben kann, trotz des allem innewohnenden Zweifels, darum geht es. Schlingensief, ergänzt Hegemann, ist selber so einer, „tief gläubig, tief zweifelnd“.

Aber nun ruft die Baustelle, die Werkstatt Oper. Das Programm des Regietrios: „Zukunft gibt es nur, solange wir unsicher und ungewiss sind. Fertig sein, heißt tot sein.“ Also legt man Wert auf das Imperfekte: Die Bühnenarbeiter rufen sich Kommandos zu, Requisiten fallen scheppernd zu Boden, auch der Chordirigent hantiert auf offener Szene. Etwas von diesem Unruhegeist wünscht sich das Team auch bei der Premiere. Aber als Dirigent Schirmer sich beklagt, dass die musikalische Qualität zu leiden beginnt, werden die Störgeräusche bereitwillig zurückgefahren.

Am Ende der Triumph-Szene fällt der Vorhang. Junge Frauen stürzen herbei und halten ihn zurück, damit sich die Bühne nicht so schnell den Blicken entzieht. Ein kleiner Aufschub, ein großer Moment. Dann fällt der Vorhang doch.

Die Premiere am 27. April ist ausverkauft. Weitere Vorstellungen am 2., 6., 17., und 31. Mai.

Zur Startseite