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Walther Pehle: Seine Drucksache

Als er 1976 anfing, wo er heute aufhört, beim Fischer Verlag, suchte er im Programm Bücher zur NS-Zeit. Er zählte empörende drei. Also wurde Walther Pehle zum Begründer der "Schwarzen Reihe".

Da ist diese kleine gedehnte Affektiertheit in seiner Stimme am Telefon. Legt sich die Bedeutung eines Mannes am Ende gar auf seine Stimmbänder? Ist das Arroganz? Oder nur Düsseldorf? Oder Selbstschutz?

Walter Pehle ist Lektor. Eigentlich garantiert dieses Berufsbild die lebenslange zuverlässige Lautlosigkeit des eigenen Namens. Niemand kennt einen Lektor, gar den einer Taschenbuchreihe. Aber Großautoren aus aller Welt nennen die seine wahlweise „Triumph der Aufklärung“, „eine Errungenschaft sondergleichen“.

Walter Pehle gibt seit nunmehr fast 35 Jahren die weltweit größte und angesehenste Reihe zur Geschichte des Nationalsozialismus heraus, die „Schwarze Reihe“ genannt. Mehr als 250 Bände entstanden in seiner Obhut. Er hat Raul Hilbergs Buch über die „Vernichtung der europäischen Juden“ international bekannt gemacht. Und als die Deutschland-Rechte an Ian Kershaws Hitler-Biografie verkauft wurden, wartete der Autor auf ein Fischer-Gebot. Es wäre nicht sehr hoch gewesen, das wusste er, aber in der „Schwarzen Reihe“ hätte er sein Buch gern gesehen.

Auch Daniel Goldhagen wollte „Hitlers willige Vollstrecker“ bei Pehle gedruckt wissen, aber dieser teilte dem Jungautor mit, dass seine Reihe kein angemessener Aufenthaltsort für eine Dissertation wie die seine sei. Er formulierte das nur etwas gewinnender. Drei Mal hat er Goldhagen abgelehnt.

Und dieser Walter Pehle, 70 Jahre, Typus lebenslanger Jungdynamiker, roter Rollkragenpullover, igelkurzes Haar, will am heutigen Donnerstag zum allerletzten Mal durch die Glastür seines Verlages in der Frankfurter Hedderichstraße treten, wie immer leicht gebeugt und mit der Miene einer ebenso diskreten wie täuschenden Welt-, Verlags- und Buchmüdigkeit vor dem Fahrstuhl warten, um dann in seinem Zimmer zu verschwinden, an dessen Tür er jetzt den Zettel „Achtung Interview! Nicht stören!“ befestigt hat.

Zuerst fällt der Blick auf eine große Joseph-Beuys-Fotografie – „Ach, mit dem war ich befreundet!“ –, und davor steht eine schon ursprungsbleiche, über die Jahrzehnte noch grauer gewordene Packung DDR-Tempolinsen von Suppina für die gestresste Hausfrau. Zubereitung in nur zehn Minuten! Pehle spürt, dass er dieses Exponat erklären sollte.

Beuys gefielen die Linsen, schon rein optisch, weshalb er sie signierte, vielleicht 50 Stück. Doch er, Pehle, habe ein ganz besonderes Exemplar bekommen, nämlich das einzig unsignierte.

Die Stimme des Lektors hat noch immer diesen leicht affektierten, gedehnten Klang, aber jetzt ist er durchschaut: Pehle setzt seine Sätze irgendwo im Offenen aus, ganz ohne Boden, und überträgt dem Empfänger so die volle Haftung für das, was er versteht oder eben nicht versteht. Und dabei blickt er scharf durch die Gläser seiner schwarzen Brille, die fast rund ist, aber eben nicht ganz.

Sein Zimmer sieht aus, als wollte er es nie verlassen. Er setzt sich in seinen Lektorensessel, von dem aus er über so viele Jahre täglich freundliche Absagen verschickte: „Mein Hauptberuf ist natürlich Verhinderer. Und Zensor bin ich auch!“ Seine Brille scheint bei diesen Worten schon wieder eine Spur unrunder zu werden. Auf vier angenommene Manuskripte kommen 100 abgelehnte.

Wenn Pehle von seinem Schreibtisch aufblickt, hat er immer den Verlagsgründer Samuel Fischer vor Augen sowie dessen Bekenntnis: „Dem Publikum Werte aufzudrängen, die es nicht will, ist die schönste und wichtigste Mission des Verlegers.“ Genauso ist es!, dachte Pehle 1976. Da hatte der frühere Student der Geschichtswissenschaften und Germanistik, der skeptische Probehörer der Philosophie sowie Autor der Dissertation „Die nationalsozialistische Machtergreifung im Regierungsbezirk Aachen unter besonderer Berücksichtigung der staatlichen und kommunalen Verwaltung“ plötzlich eine Lektoren-Stelle bei Fischer. Es war eine Grundsatzentscheidung, sie anzunehmen.

Obgleich er als Lektor für Psychologie und Pädagogik eingestellt war, wofür, wie er einsah, ein junger Familienvater sich durchaus interessieren sollte, wollte er wissen, was an Verwandtem zu seiner Doktorarbeit bei Fischer erschienen war. Er zählte empörende drei Titel: „Das Tagebuch der Anne Frank“, Inge Scholls Bericht über „Die weiße Rose“ und Walther Hofers schon berühmte NS-Dokumentation. Das war alles? Er überhörte geflissentlich alle Stimmen, die ihm zuflüsterten, dass „das“, das „Dritte Reich“, nun wirklich keinen Menschen mehr interessiere.

Er war vorbereitet. Seinem Vater, einem Düsseldorfer Regierungsrat, Jahrgang 1904, der im Rang eines Majors am Krieg teilgenommen hatte, hatte der Sohn nicht ohne Triumph seine Dissertation auf den Tisch gelegt. „Eigentlich hatte mich Aachen gar nicht interessiert“, sagt Pehle, „viel lieber wollte ich die nationalsozialistische Machtergreifung im Regierungsbezirk Düsseldorf unter besonderer Berücksichtigung meines Vaters untersuchen.“ Sein Regierungsratsvater, der so außerhalb jeder Relation – insbesondere der zu seinem kritischen Sohn – zu stehen meinte, er hätte sich einfach eingeordnet gesehen. In Relation gebracht!

Denn Pehle wünschte sich durchaus eine neue Basis des Vater-Sohn-Dialogs, der bisher meist mit der Auskunft des Vaters endete „Politik verdirbt den Charakter!“, worauf der Sohn „Deinen vielleicht!“ antwortete, und der Vater nunmehr in nonverbaler Absicht die Rechte in Richtung des Sohnesgesichts hob.

„Funktionalist“ war Pehle, der Schüler Wolfgang J. Mommsens, schon damals. Die Funktionalisten gehen davon aus, dass nicht einmal das Nazi-Reich auf Befehl des „Führers“ entstand, dass es vielmehr unzähliger kleiner, gar nicht strikt planbarer Schritte auf den verschiedenen Ebenen bedurfte, die sich ineinander verschränkten, Verstärkungseffekte bildeten, Eigendynamiken entfalteten, bis sie schließlich höheren Orts aufgenommen wurden. Die „Funktionalisten“ pflegen den Blick von unten, während „Intentionalisten“ wie Goldhagen von oben schauen und noch heute letztlich nach dem alles erklärenden „Führerbefehl“ suchen.

Pehle schraubt sich aus seinem Sessel, tritt an das Regal mit dem Bild Samuel Fischers, zieht ein Taschenbuch mit weißem Rücken und viel Rot auf dem Einband hervor. Es ist das „Nürnberger Tagebuch“ des amerikanischen Gerichtspsychologen Gustave M. Gilbert, der mit den angeklagten Hauptkriegsverbrechern gesprochen hatte. Es war längst vergriffen, Pehle wollte es noch einmal.

Die Ausläufer der 68er-Ideologiewellen waren gerade verebbt und damit das Denken in den großen, oft zu großen Maßstäben. Aber er würde das Publikum schon zum Lesen bringen, vielleicht sogar den eigenen Vater.

Er holt ein zweites Buch aus dem Regal, diesmal ganz schwarz, nüchternste weiße Schrift, Dokumentarfoto. Es ist derselbe Band, in der Neuauflage von 1977: „Da war sie, die Schwarze Reihe“, sagt Pehle. Bloß habe das damals keiner gemerkt, er selbst am wenigsten. Es war nur so, dass er bei jedem neuen Buch sagte: Macht es genau wie das vorige!

Vielleicht hat er auch Hilberg schon sein verlegerisches Ideal erklärt. Er bringe nicht einzelne Bücher heraus, die sich dann erschrocken im Verlagsprogramm umschauen, weder Verwandte noch Freunde erblicken und sich fragen: Wo bin ich? Sondern er mache Bücher, die miteinander sprechen, die einander antworten. Und es komme ihm durchaus so vor, sagte er Hilberg, als ob die Bücher des eigenen Programms nur warteten auf die Unterredung mit dem seinen.

Hilberg sah das sofort ein, und so ist „Die Vernichtung der europäischen Juden“ zu Walter Pehles verlegerischem Hauptwerk geworden. Zur größten Insel im Pehle-Archipel.

Das, was Raul Hilberg, Götz Aly, Wolfgang Benz, Varian Fry und viele andere verbindet, kann man so beschreiben: Im Kern ist es die Widerlegung des ebenso kalten, abgründigen wie unmittelbar sinnfälligen Satzes von Hannah Arendt: Das Einzigartige am Holocaust sei nicht die Zahl der Opfer gewesen, sondern das Fehlen jeder Nützlichkeits- und Interessenabwägung der Mörder. Pehles „Schwarze Reihe“ tritt den Gegenbeweis an, und immer wieder führen fast gespenstische Gedankenfäden bis in die Gegenwart: Die Optimierungskalküle der Forschungs-, Wirtschafts- und Verwaltungselite des Dritten Reiches waren hochmodern gedacht; ihr Sprachgebrauch klingt mitunter fast vertraut, bis man vor einem Wort wie „Bevölkerungsökonomie“ doch zurückprallt.

Die Optimierer von heute haben sich Pehles „Schwarze Reihe“ angesehen, als McKinsey den Fischer-Verlag besuchte. Sie haben die Sache mit den sprechenden Inseln nicht sofort verstanden, aber schließlich mit dem äußersten Maß der ihnen zur Verfügung stehenden Prägnanz die Schwarze Reihe zur „Kernkompetenz“ des Fischer-Verlages erklärt. Und schwarze Zahlen schreibt sie schließlich. Pehles Brille scheint zum Ei werden zu wollen. Es könnten noch viel dickere schwarze Zahlen sein. Denn Goldhagens Buch, das Pehle abgelehnt hatte, wurde zum Bestseller. „Ja, sehen Sie, sein Buch hätte bei uns mit keinem anderen sprechen können“, erklärte der Lektor den Buchhaltern im Hause Fischer, er hatte den Erfolg durchaus geahnt. Aber ist Geld allein ein zureichender Grund, Papier bedrucken zu lassen?

In Israel muss Pehle sich anders rechtfertigen. Auf die Frage „Sind Sie Jude?“, antwortet er regelmäßig: „Nein, Historiker!“, worauf ein gewisser Argwohn in Erfahrung bringen will: „Und was hat Ihr Vater im Krieg gemacht?“ – „Baracken gebaut.“ – „Für KZs?“ – „Nein, für Kasernen, Zollämter …“ Ja, sein Vater. „Vielleicht habe ich dem Alten sehr Unrecht getan“, sagt Pehle. In wie vielen Archiven hat er gesucht und: nichts! Vielleicht hätte er seiner Kinderwahrnehmung trauen sollen, als er hellwach aufhorchte, wenn die Kriegskameraden-Bridge- Runde seines Vaters manchmal auf den Krieg kam. Und dann erfuhr er nichts über Panzer und Gewehre und was den kleinen Jungen sonst brennend interessierte, stattdessen vernahm er Auskünfte wie: „Weißt du noch, wir hatten keine Nägel!“

Pehles Blick fällt wieder auf sein Zimmer. In seinem Garderobenschrank stehen kleine, nicht sehr vorteilhaft wirkende Kohl-Büsten. Ein Historikerkollege. Pehle hat mal verhindert, dass er auf einem Historikertag sprach.

Sein junger Nachfolger sitzt schon im Zimmer nebenan. Der muss mit den immer länger werdenden Manuskripten der immer jünger werdenden Historiker zu immer spezielleren Themen fertig werden. „Historiker, lernt schreiben!“, hatte Pehle in einer Art Vermächtnisaufsatz den Autoren zugerufen und Bücher im „Idealformat von 256 Seiten“ gefordert. Der Satz, der all dies beinhaltete, war fast eine halbe Druckseite lang. Pehle ist ein Beuys unter den Historikern, oft genauso abgründig unernst, wie es nur die wirklich ernsthaften Menschen sind. Pehles Zeitschriftenlektor wollte damals unbedingt einen Punkt in den Kürze fordernden Unendlichkeitssatz einfügen. Niemals!, antwortete der Autor.

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