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Peter Brook

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Peter Brook würdigt William Shakespeare: Shakespeare war kein Strohmann

Shakespeare war und ist einzigartig. Immer wieder wird aber bezweifelt, dass er seine genialen Stücke selbst geschrieben hat. Theaterregisseur Peter Brook sagt nun: Der Dramatiker muss ein Bühnenmensch gewesen sein!

Ich war in Moskau und hielt beim Tschechow-Festival einen Vortrag über Shakespeare. Als ich fertig war, stand ein Mann auf und teilte dem Publikum mit, dass er aus einer der islamischen Republiken im Süden komme. „In unserer Sprache“, sagte er, „bedeutet Shake Scheich, und Pir bedeutet weiser Mann. Für uns besteht kein Zweifel – mit den Jahren haben wir gelernt, versteckte Botschaften zu deuten. Diese ist eindeutig.“ Ich war nun überrascht, dass niemand darauf hinwies, dass Tschechow ein Tscheche gewesen sein muss.

Seit damals ist mir immer wieder ein neuer Anspruch auf die Urheberschaft am Werk des Barden zu Ohren gekommen. Der letzte kam aus Sizilien. Ein Wissenschaftler hatte herausgefunden, dass eine Familie vor der Inquisition von Palermo nach England geflohen war. Ihr Name war Crollolancia. Es liegt auf der Hand: crollo heißt schütteln, auf Englisch shake, und lancia ist ein Speer, spear. Einmal mehr ist der Code eindeutig.

Zumindest in einem Punkt stimmen wir alle überein: Shakespeare war und ist einzigartig. Die Kombination von genetischen Elementen – oder Planeten –, die sein Entstehen im Mutterleib lenkten, ist so verblüffend, dass sie nur einmal in mehreren Jahrtausenden auftreten kann. Man pflegte zu sagen, wenn eine Million Affen eine Million Jahre auf eine Million Schreibmaschinen einhämmerten, würden die gesammelten Werke Shakespeares erscheinen. Selbst das ist nicht sicher.

Shakespeare durfte kein Mann aus dem Volk sein

Shakespeare nimmt Bezug auf alle Aspekte des menschlichen Daseins. In jedem seiner Stücke wird das Niedrige, der Dreck, der Gestank, das Elend des gewöhnlichen Lebens, mit dem Schönen, Reinen und Erhabenen verwoben. Wie konnte ein einziges Gehirn ein so breites Spektrum umfassen? Lange Zeit genügte diese Frage, um einen Mann des Volkes auszuschließen. Nur jemand von adliger Herkunft und mit höherer Bildung könne diese Stufe erreichen. Selbst der klügste Gymnasiast vom Land, und sei er noch so begabt, könnte nie über so viele Erfahrungsebenen springen.

Das wäre einleuchtend, wenn nicht sein Gehirn einzigartig gewesen wäre. Als wir für meine Inszenierung von „L’Homme qui“ („Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“) über das Gehirn forschten, begegnete ich vielen Phänomenen. Nur ein Aspekt war die erstaunliche Fähigkeit vieler Gedächtniskünstler. Ein typisches Beispiel war ein Taxifahrer aus Liverpool, der die komplette räumliche Anordnung jedes Hotelzimmers in Liverpool in anschaulichen Details im Kopf hatte. Wenn er Kunden vom Flughafen abholte, konnte er ihnen daher raten: „Nein, Zimmer 204 ist nichts für Sie. Das Bett steht zu nah am Fenster. Lassen Sie sich 319 zeigen.“ Ein so erstaunliches Erinnerungsvermögen ist nicht das Resultat höherer Bildung und reicht für sich genommen nicht aus, um Shakespeares Werk zu schreiben. Aber er muss eine außergewöhnliche Fähigkeit gehabt haben, um jede Art von Eindruck aufzunehmen und sich in Erinnerung zu rufen.

Ein Dichter nimmt alles auf, was er erlebt, und das gilt erst recht für einen genialen Dichter. Er filtert es und hat die einzigartige Fähigkeit, scheinbar völlig unzusammenhängende oder widersprüchliche Eindrücke miteinander in Verbindung zu bringen.

Genies stammen manchmal aus einfachsten Verhältnissen

Ein Genie aber kann aus den bescheidensten Verhältnissen hervorgehen. Wenn wir das Leben der Heiligen betrachten, waren die meisten, im Gegensatz zu Kardinälen und Theologen, von ganz gewöhnlicher Herkunft. Das trifft vor allem auf Jesus zu. Niemand bezweifelt, dass Leonardo wirklich Leonardo da Vinci war, auch wenn er ein uneheliches Kind aus einem italienischen Dorf war. Warum also behaupten, dass Shakespeare ein Bauerntölpel war?

Das Bildungsniveau war zu Zeiten von Königin Elisabeth I. bemerkenswert hoch. Es war gesetzlich festgelegt, dass kein Junge vom Lande über weniger klassische Bildung verfügen sollte als die Söhne des Adels. In der Satzung der Schule in Stratford stand: „Alle Kinder sollen unterrichtet werden, mögen ihre Eltern auch noch so arm und die Jungen noch so unbegabt sein.“

Shakespeares Welt war die Welt des Theaters.

William Shakespeare.
Hat er oder hat er nicht? Oft wird angezweifelt, ob William Shakespeare seine Stücke selbst geschrieben hat.

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Allen voran hat der amerikanische Literaturwissenschaftler James Shapiro das Lebensgefühl und den Zeitgeist jener Epoche lebendig werden lassen. Seine detaillierten Nachforschungen sind so überzeugend, dass ausnahmsweise einmal Theorien durch lebendige Erfahrung ersetzt werden. So können wir uns den jungen Mann vom Lande an seinen ersten Tagen in London vorstellen, wie er durch die lauten, geschäftigen Straßen läuft, in den Wirtshäusern sitzt und in Bordelle späht, Augen und Ohren weit offen, um Geschichten von Reisenden, Gerüchte über Palastintrigen, religiöse Streitigkeiten, elegante Schlagfertigkeit und gewalttätige Obszönitäten aufzusaugen. Tatsächlich lebte er Jahr für Jahr mit diesem riesigen Meer von Informationen, das den ungeformten Geschichten, die in seinem Kopf herumwirbelten, Nahrung gab.

Es ist seltsam, dass die Diskussion (um Shakespeares Autorschaft, Anm. d. Red.) nie dazu geführt hat, den wichtigsten Faktor zu bedenken: dass seine Welt das Theater war. Wer war dieser Mann, der auf der Bühne stand, zusammen mit anderen probte, stundenlang in den Wirtshäusern saß und mit jedermann ins Gespräch kam, ohne dass irgendeiner ihn verdächtigte, ein Schwindler zu sein? Ein Schauspieler sagt zu einem Autor: „Kannst du diese Zeile nicht ändern?“ oder „Der Teil scheint ein bisschen lang, könnten wir ihn nicht kürzen?“ oder „Ich habe nicht genug Zeit für den Kostümwechsel, könntest du nicht noch einen Monolog oder eine kleine Szene auf der Vorbühne schreiben?"

Shakespeare, ein falscher Dichter?

Stellen Sie sich vor, ein falscher Shakespeare muss etwas umschreiben und eine neue Szene hinzufügen. Er überlegt eine Weile und rechnet aus, wie lange es für einen Mann zu Pferd dauern würde, vielleicht nach Oxford oder York zu reiten, zu warten, bis ihm der geheime Dichter seine Papiere gibt, und dann zurückzukommen. Shakespeare müsste jedes Mal hin- und herüberlegen und dann sagen: „Dafür brauche ich fünf Tage.“ Und niemand hat das je angesprochen, obwohl es Jahr für Jahr so gelaufen sein muss? Niemand schöpfte Verdacht unter all diesen gehässigen und neidischen Rivalen? Tut mir leid, Akademiker: Wenn ihr je Teil eines Probenprozesses gewesen wärt, würdet ihr anders denken.

Stellen Sie sich heute einmal einen falschen Dichter (als Strohmann) vor. Die Mitwirkenden würden es merken und sich über die Tatsache den Mund zerreißen, dass der Autor bei jeder Frage mit seinem Mobiltelefon auf die Seitenbühne verschwindet.

Es gibt kein Dokument, das auf eine Überarbeitung hinweist. Es gab keine unvollendeten Stücke in der Schublade, keine Schreibblockade – keine mit Beckett’schem Perfektionismus immer wieder überarbeiteten Entwürfe. Sein Gehirn hörte nie auf, zu suchen und zu experimentieren. Er war wie Mozart. Wenn man etwas dringend von ihm benötigte, griff er sofort auf das gesamte Material zurück, das in ihm vibrierte.

Shakespeare schrieb für eine Gemeinschaft

Shakespeare hätte nicht den Schauspielern ihren Text geben und erwarten können, dass sie ein paar Stunden später „Hamlet“ oder „König Lear“ aufführen, ohne Vorbereitung, ohne Erarbeitung der Auftritte und Abgänge, der Musikeinsätze und der Wechsel von einer Spielebene zur anderen. Wäre das ohne Fragen, ohne Diskussion, ohne Trials and Errors möglich gewesen?

Es mussten praktische Entscheidungen getroffen werden. Es genügt, die Figur Peter Squenz bei den Proben für die Aufführung von „Pyramus und Thisbe“ mit Zettel und den sogenannten Handwerkern im „Sommernachtstraum“ oder Hamlets Rede an die Schauspieler anzuschauen, um ganz konkret zu sehen, dass die Inszenierungen zu Shakespeares Zeiten, auch wenn diese nicht die Schwierigkeiten der heutigen Zeit hatten, keine willkürlichen Ereignisse waren. Bestimmt gab es Fragen, auch Meinungsverschiedenheiten, mit denen der Autor konfrontiert wurde – besonders wenn dieser auch Mitglied der Schauspieltruppe war –, die sie schnell und gemeinsam lösen mussten.

Es ist erstaunlich, dass so viele Gelehrte diesen grundsätzlichen Aspekt völlig übersehen haben. Shakespeare war kein Dichter, der auf einer Insel lebte, er schrieb für eine Gemeinschaft in prekären Lebensverhältnissen. Neben den Schauspielern gab es im Globe Theatre damals wie heute Souffleure und professionelle Bühnenarbeiter. Diese Stage Keeper waren auch bekannt dafür, ihr Urteil über ein Stück manchmal lautstark kundzutun – ebenso wie die galanten Herren, die geistreiche Bemerkungen auf Kosten der Darsteller von sich gaben, so wie die Höflinge bei der Aufführung von „Pyramus und Thisbe“ im „Sommernachtstraum“.

Die siebzig Anwärter auf Shakespeares Thron.

Es ist geradezu unwirklich, sich vorzustellen, dass Shakespeare Jahr für Jahr mit vielen Mitarbeitern arbeitete und seine Befähigung als Autor nie in Frage gestellt wurde. Zu Shakespeares Zeit wimmelte es nur so von Dramatikern, guten und schlechten, wohlwollenden und gehässigen. Die meisten von ihnen starben arm; Shakespeare war einer der ganz wenigen, der sich mit genügend Geld Land kaufen und zur Ruhe setzen konnte.

Es gab allen Grund für Neid. Wie überall versuchten Schriftsteller im elisabethanischen London, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und waren dafür bereit, Pamphlete zu verfassen, die ihre Kollegen herabsetzten. Shakespeare war ein perfektes Ziel. Ist es daher nicht seltsam, dass es keine Dokumente gibt, die diesen Schauspieler-Manager diffamieren, der vorgibt, diese sehr erfolgreichen Werke unter seinem eigenen Namen zu schreiben und zu veröffentlichen? Es gibt nur die viel zitierten, abfälligen Worte von Robert Greene, „eine emporgekommene Krähe“, denen Ben Jonson warme und sogar entschuldigende Worte entgegensetzt und dabei einen Shakespeare preist, der seit Jahren offen sein Rivale war und mit dem er doch viele Stunden zusammen in der „Mermaid Tavern“ verbrachte.

Siebzig Anwärter auf einen Thron

Offenbar gibt es etwa siebzig Anwärter auf Shakespeares Thron. Es gibt sogar ein Gerücht, dass Königin Elisabeth die Stücke in Zusammenarbeit mit einem unehelichen Sohn, mit dem sie eine inzestuöse Beziehung hatte, geschrieben hat. Dass einer der ersten Anti-Shakespearianer den gottgegebenen Namen Thomas Looney (dt.: Irrer/Wahnsinniger/Spinner) trug, darf uns ein Lächeln entlocken.

Es bleiben viele offene Fragen. Warum hat Shakespeare seiner Tochter nicht Lesen und Schreiben beigebracht? Warum hat er keine Manuskripte hinterlassen? Es gibt in der Tat Lücken und Löcher in allem, was wir über Shakespeare wissen, aber es gibt ebenso viele oder mehr bei jedem der anderen Prätendenten. Kurzum: Es wird immer ein Rätsel bleiben. Ein Mysterium. Gibt es eine bessere Grabinschrift für den Autor von „Hamlet“?

Bei diesem Text handelt es sich um eine eine eigens eingerichtete Fassung des ersten Kapitels aus Peter Brooks neuem Buch „Mein Shakespeare“, das nächste Woche im Alexander Verlag Berlin erscheint, aus dem Englischen übersetzt von Sara Fuhrmann.

Zum Frühlingsbeginn feiert der in London geborene Regisseur Peter Brook am morgigen Samstag seinen 90. Geburtstag. Vor allem Brooks Shakespeare-Inszenierungen wie der „Sommernachtstraum“, „König Lear“ oder „Hamlet“ machten ihn zum berühmtesten Bühnenzauberer der Gegenwart. Und mit seinem multikulturellen Ensemble in den Bouffes du Nord, vormals einem Pariser Vaudevilletheater, wurde er ab 1970 zum Idol eines neuen Welttheaters. Peter Brooks Buch „Der leere Raum“ gilt als moderne Theaterbibel, legendär seine Verfilmung von Peter Weiss’ „Marat/Sade“ oder das Zwölf-Stunden-Spektakel des indischen „Mahabharata“. Brook arbeitete mit Schauspielern wie Paul Scofield, Glenda Jackson, Marcello Mastroianni oder Michel Piccoli.

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