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Zwischen 1925 und ihrer Abreise ins amerikanische Exil im Jahr 1933 fotografierte Gerty Simon die Ausdruckstänzerin Lotte Goslar.

© The Bernard Simon Collection, Wiener Holocaust Library Collections

Wiederentdeckung aus den 1920er Jahren Berlins: Sie porträtierte die Berühmtheiten ihrer Zeit - nur ohne Glamour

Jahrzehntelang schlummerten Gerty Simons Aufnahmen in einer Kiste in London. Die Liebermann-Villa würdigt endlich die vergessene Fotografin.

Sehr ernst, sehr nachdenklich schaut Max Liebermann in die Kamera. Das milde Seitenlicht lässt die Haut des 82-jährigen Künstlers dünn, fast durchsichtig erscheinen. Die feinen Schnurrbarthaare kräuseln sich ungezähmt. Liebermann hat seinen Malkittel über die Weste gezogen und lehnt in einem tiefen Polstersessel – nicht der einflussreiche Akademiepräsident, der er zu dieser Zeit auch war, sondern der empfindsame Maler.

Wahrscheinlich hat die Fotografin Gerty Simon dieses Porträt von Max Liebermann in dessen Villa am Wannsee aufgenommen. Jetzt hängt das Foto am Eingang zu der Ausstellung „Gerty Simon Berlin/London“ und fügt sich mit seinem durchschimmernden Licht harmonisch in das helle Haus am See.

Vor sechs Jahren tauchte der Schatz im Nachlass des Sohnes auf

Die spannende Ausstellung, die in Kooperation mit der Wiener Holocaust Library in London entstand, präsentiert das Werk und die Wiederentdeckung der in Vergessenheit geratenen Fotografin.

2015 erhielt die Wiener Holocaust Library in London, die größte Institution zur Dokumentation der NS-Verbrechen, den Nachlass des in Berlin geborenen Geschäftsmanns Bernd Simon. Als die Archivare die Kisten öffneten, fanden sie zwischen Schulzeugnissen und Familienfotos einen Schatz, nämlich das Archiv der Fotografin Gerty Simon, der Mutter von Bernd Simon. 350 Silbergelatine-Abzüge – Porträts von Wissenschaftlern, Künstlerinnen, Schauspielerinnen und Unbekannten aus Berlin und London.

Im Malerkittel. Liebermann zeigte sich 1929 Gerty Simon gegenüber nachdenklich.
Im Malerkittel. Liebermann zeigte sich 1929 Gerty Simon gegenüber nachdenklich.

© The Bernard Simon Collection, Wiener Holocaust Library Collections

Jetzt zeigt Lucy Wasensteiner, seit letztem Jahr Direktorin der Liebermann-Villa, diese Bilder zum ersten Mal seit fast neunzig Jahren wieder in Berlin. Dazu rekonstruiert sie die Karriere von Gerty Simon, soweit das anhand der bisherigen Quellen möglich ist. Fragen bleiben noch. Gerty Simon wurde 1887 als Gertrud Cohn in Bremen geboren, sie nannte sich selbst Gerty.

Nach der Heirat mit dem Straßburger Juristen Wilhelm Simon zog das Ehepaar nach Berlin in die Clausewitzstraße 2. Hier eröffnete Gerty Simon ihr „Photographisches Studio“. Im Berlin der zwanziger Jahre machten sich Frauen wie Yva, Lotte Jacobi oder Ilse Bing mit eigenen Ateliers einen Namen. Wo Gerty Simon den Umgang mit der Kamera lernte, weiß man nicht. Ihre Bilder sind jedenfalls von professioneller Sicherheit und Qualität.

Der Maler zeigte sich mit dem Fotoporträt zufrieden

Liebermann ist denn auch zufrieden mit dem „ausgezeichneten“ Porträt von ihm. Aber er schreibt in seiner Dankeskarte etwas zweideutig: „Ich hoffe, daß die eminente Leistung Sie für die großen Mühen, die Sie darauf verwandt haben, einigermaßen entschädigen wird.“ Später erscheint Gerty Simons Porträt in einer Liebermann-Biografie von Hans Ostwald.

Gerty Simon fotografiert zwar die Berühmtheiten ihrer Zeit, aber an Glamour hat sie wenig Interesse. Stattdessen nehmen die Porträtierten Blickkontakt zur Fotografin auf. Lotte Lenya schaut sie prüfend an. Albert Einstein löst die Situation mit einem Funken Flirt.

Die Fotografin begegnete ihren Kunden auf Augenhöhe

Diese ebenbürtige Begegnung mit den Künstlerinnen, Wissenschaftlern und Politikern ihrer Zeit passt zu dem Bild, das Gerty Simon in einem Selbstporträt festhält. Es zeigt eine energische Frau mit freimütigem Blick, einen kühlen Kopf mit wildem Haar.

Als die deutsch-jüdische Künstlerin 1933 nach London emigriert, bereitet sie ihren Neuanfang im Exil professionell vor. Sie kopiert die Rezensionen ihrer Berliner Ausstellungen, übersetzt sie ins Englische und zieht sie auf Kartons auf. Sie nimmt Kontakt zu dem in London lebenden Fotografen Francis Brugière auf, den sie wahrscheinlich bei seiner Einzelausstellung in Berlin kennengelernt hatte.

Ihr Mann bleibt noch bis 1938 in Deutschland, ihr Sohn, der das Internat der jüdischen Reformpädagogin Anna Essinger bei Ulm besucht, zieht mit der ganzen Schule nach England um. Offenbar hat seine Mutter ihn begleitet, denn es existiert ein Foto der Klasse während der Überfahrt mit der Fähre.

In London knüpft Gerty Simon schnell Kontakt zu den Emigranten, die vor den Nazis fliehen mussten. Ihre erste Ausstellung zeigt sie in der Storrage Gallery der Wiener Galeristin Ala Story. Ihre zweite Ausstellung kuratiert der Kunsthändler Alfred Flechtheim. Auch in England bleibt Gerty Simon ihrer Strategie treu, in ihren Porträts kaum zu retuschieren.

Neustart in London. Gerty Simon 1934, ein Jahr nach dem Umzug, im Selbstporträt.
Neustart in London. Gerty Simon 1934, ein Jahr nach dem Umzug, im Selbstporträt.

© The Bernard Simon Collection, Wiener Holocaust Library Collections

„Schauspielerinnen möchten Individualität, selbst wenn dies auf Kosten ihrer Schönheit geht“, wird sie zitiert. Kiss or kill – auf diese Formel bringt ein britischer Rezensent den Stil von Gerty Simon. Die Menschen, glaubt er, wollen die Fotografin entweder küssen oder töten, wenn sie sich in ihren Porträts wiedererkennen.

1936 endet die Spur der Bilder. Warum Gerty Simon mit 49 Jahren die Kamera beiseitelegte, ist nicht bekannt. Möglicherweise wurden die Verhältnisse für sie als Emigrantin zu schwierig. 1938 verließ auch ihr Mann nach den Novemberpogromen Berlin. 1940 wurden Wilhelm und Bernd Simon als „feindliche“ Ausländer interniert. Erst 1947 gelang es der Familie, die englische Staatsbürgerschaft zu erhalten.

Um die Biografie der vergessenen Fotografin zu vervollständigen, hat die Wiener Holocaust Library bei Flickr unter #FindingGerty Fotos der Menschen ins Netz gestellt, zu denen es bisher keine Anhaltspunkte gibt.

Noch fehlt Gerty Simon in der großen Ney Yorker Überblicksschau

Vielleicht lassen sich auf diese Weise auch in Berlin weitere Informationen über die Fotografin finden. In der gerade im Metropolitan Museum eröffneten Ausstellung „The New Woman behind the Camera“, die 120 Fotografinnen aus zwanzig Ländern feiert und sich insbesondere ihrem Schaffen in den 1920er Jahren widmet, fehlt sie noch. Dazu ist die Entdeckung von Gerty Simons Werk zu frisch. Grete Stern, Marianne Brandt, Yva, Ilse Bing, Gertrud Arndt, Ringl + Pit, sie haben es in den Olymp des New Yorker Museums geschafft. Gerty Simon wird ihnen folgen.

[Liebermann-Villa Wannsee, Colomierstr. 3, bis 4. 10.; Mi bis Mo 10 – 18 Uhr. Zeitfenstertickets unter www.liebermann-villa.de/tickets]

In der Liebermann-Villa bilden die Schwarz-Weiß-Fotos jetzt einen reizvollen Gegensatz zur Malerei des Hausherrn und zum prächtigen Garten. In jedem Jahr soll hier ein Gemälde von Max Liebermann nachwachsen. Dieses Jahr ist zwischen Staudenbeeten und Kohlköpfen ein Bohnenspalier angelegt, wie es in dem Bild „Der Nutzgarten in Wannsee“ von 1917 zu sehen ist. Hier draußen kann man einen weiteren Künstler entdecken – den Gärtner.

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