
© Sonya Schönberger © VG Bild-Kunst, Bonn 2025; Foto: Leo Seidel
Sonya Schönbergers Rauminstallation in St. Matthäus: Rostige Nägel führen zum Altar
Gekrümmt, zerbrochen, verbogen: 13.000 Nägel liegen ausgebreitet in der Apsis von St. Matthäus. Sie erinnern an die Passion Christi und das Leiden der Zwangsarbeiter.
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Die halten nichts mehr zusammen. Rostig gekrümmt, zerbrochen, verbogen oder schon zu Metallstaub zerbröselt liegen sie auf dem Boden, massenhaft. Wenn Pfarrer Hannes Langbein während des Gottesdienstes an den Altar tritt, knirschen die alten Nägel geräuschvoll unter seinen Sohlen. Unüberhörbar ist die Vernichtung dieser fragilen Überreste der Vergangenheit. Berliner Geschichte pulverisiert sich.
Die ursprünglich 13.000 Nägel stammen aus einer archäologischen Grabung auf dem Tempelhofer Feld. Wo Zwangsarbeiter entlang des Columbiadamms von den Nazis in Holzbaracken eingepfercht wurden, blieben die Fragmente im Boden zurück. Nichts mehr, außer Infostelen, zeugt dort heute vom Ort der Täter und der Opfer. Insgesamt rund 100.000 diverse Überbleibsel förderten Susan Pollock und Reinhard Bernbeck von der Freien Universität, Fachbereich Vorderasiatische Archäologie, zwischen 2012 und 2014 zutage. Die in Berlin lebende Künstlerin Sonya Schönberger hat die Nägel jetzt auf dem Boden ausgeschüttet, vor dem Altar.

© DALE GRANT
Darf man das eigentlich? Derart auf der Geschichte der Opfer herumtrampeln, wie es ein kritischer Besucher formulierte? Für die Künstlerin gehört es zum Konzept ihrer Rauminstallation in der Kirche St. Matthäus, vor deren hohen Rundbogenfenstern sich draußen die Baukräne für den Museumsneubau am Kulturforum drehen. Auch das Gotteshaus ist seit 25 Jahren ein Haus der Kunst. Im Wandel des Kirchenjahres wechseln die Ausstellungen. Jetzt in der Passionszeit liegen Nägel als Motiv nahe. Aber der Bezug ist nicht so platt, wie man meinen könnte.
Natürlich, der zierlich geschnitzte Christus, eine jahrhundertealte Holzskulptur an einem der Pfeiler im schlicht modern gestalteten Kirchenraum des nach Kriegszerstörung wiederaufgebauten Stüler-Baus führt es ja vor Augen. Er weist unaufdringlich seine Wundmale vor, wo die Nägel ins Fleisch drangen, als er ans Kreuz geschlagen wurde. Doch Theologe Langbein, der auch die Stiftung St. Matthäus leitet, betont: in der evangelischen Frömmigkeit spielen die Kreuzigungsnägel eigentlich keine Rolle. Anders als im Katholischen, wo etwa der Petersdom sie bis heute als Reliquie verwahrt.
Erlösung gibt es nicht
Für Langbein geht es um Themen der Schuld und der Vergänglichkeit, die er auch in Schönbergers Arbeit angesprochen sieht, wie er bei einem Künstleringespräch erläuterte. In der christlichen Heilsgeschichte folgt auf die Passion die österliche Auferstehung. Von der realen Berliner Vergangenheit gibt es keine Erlösung.

© Sonya Schönberger © VG Bild-Kunst, Bonn 2025; Foto: Leo Seidel
NS-Zwangsarbeit betrifft ja auch die Kirchen selbst. In Berlin gab es sogar ein eigenes Lager unter kirchlicher Regie. Die oft aus der heutigen Ukraine Verschleppten schufteten auf Friedhöfen. Derzeit läuft für die kleine Gedenkstätte in Neukölln, die daran erinnert, ein Kunstwettbewerb, in dessen Jury Sonya Schönberger mitarbeitet.
Über dem Altar in St. Matthäus hängt statt des mächtigen Kreuzes, das schon vor Jahren ins Treppenhaus umgehängt wurde, um wechselnden zeitgenössischen Kunstimpulsen Platz zu machen, ein riesiger hochformatiger Videoscreen. Und hier geschieht etwas Merkwürdiges. Meditativ langsam wechseln dunkeltonige Fotografien. Jede Aufnahme zeigt ein Porträt. Das sind keine Bildnisse von Menschen, und doch fühlt man sich unwillkürlich an menschliche Überreste, an Gebeine, an verkrümmte Gestalten erinnert.
In Wirklichkeit sind es einzelne Nägel, manchmal auch zwei zu einer Einheit zusammengerostet. Rund 200 aus den vielen Tausend hat Schönberger ausgewählt. Sie stellen Verletzlichkeit aus, Vergänglichkeit, Verfall. Als die Künstlerin von dem FU-Archäologenteam gefragt wurde, ob sie mit den Fund-Artefakten irgendetwas machen wolle, sagte Schönberger sofort zu. Die studierte Ethnologin arbeitet meist mit Gesprächen, legt Archive an. In ihrer Langzeitarbeit „Berliner Zimmer“ etwa befragt sie HauptstadtbewohnerInnen, namhafte und unbekannte.
Aber was erzählen Nägel? Oder, genauer, wie bringt man sie zum Sprechen? Anfangs war Schönberger ratlos. Sie begann 2020 damit, die einzeln in Tütchen verwahrten und wissenschaftlich akribisch dokumentierten Nägel zu fotografieren. „Dabei hatte ich viel Zeit zum Nachdenken,“ meint die Künstlerin. Vor Jahren hat sie ihre Installation bereits im Schwerbelastungskörper in Schönberg gezeigt. Sie hofft, dass die Reise der Nägel aus der Vergangenheit in die Gegenwart noch nicht zu Ende ist.
Dass NS-Zwangsarbeit lange Zeit gar nicht und dann nur zögernd aufgearbeitet wurde und wird, macht sie fassungslos: „Das war das offenkundigste Verbrechen der Nazis. Jeder wusste davon. Ich habe viele Interviews dazu geführt.“ Irgendwann werden die Nägel, die Sonya Schönberger in Obhut nahm und für die sie Verantwortung trägt, zu Staub zerbröselt sein. Aber auch dann werden sie immer noch Schuld bezeugen. Erinnerung ist niemals abgeschlossen.
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