zum Hauptinhalt
Honiggläser der Marke Cancel Culture des von Jan Böhmermann beklagten Imkers Rico Heinzig.

© dpa/Robert Michael

Spröde Hymne: Karsten Schubert singt ein Loblied der Identitätspolitik

Der Berliner Ideenhistoriker Karsten Schubert versucht sich an einer Verteidigung der Cancel Culture – mit fragwürdigem Erfolg.

Stand:

Vor 15 Jahren konnte hierzulande noch kaum jemand sagen, was „Identitätspolitik“ überhaupt sein soll. Inzwischen weiß man es nicht mehr, weil dieses Wissen im Geschrei des sogenannten Kulturkampfs untergegangen und Identitätspolitik selbst ein Kampfbegriff geworden ist.

Es kursieren noch andere Bezeichnungen, die in den Debatten mehr oder weniger synonym verwendet werden: Postkolonialismus, Wokeness oder postmoderne Linke.

Nach dem 7. Oktober 2023 wurden deren Vertreter in zahlreichen Essays und Kommentaren von konservativen und liberalen Autorinnen und Autoren zum Teufel gejagt, nachdem einige Woke das Massaker der Hamas als Befreiungskampf gefeiert hatten.

Einen „moralischen Bankrott“ konstatiert selbst der linke Musikjournalist und Poptheoretiker Jens Balzer, und versucht in seinem Essay „After Woke“ zu retten, was von der emanzipatorischen Theorie noch zu retten ist. Zeitgleich kommt mit Karsten Schuberts „Lob der Identitätspolitik“ ein Buch heraus, das auf interessante Weise unbeeindruckt von den jüngsten Entwicklungen zu sein scheint.

In seiner gut gelaunten Apologetik definiert er Identitätspolitik als „die politische Praxis marginalisierter Gruppen, die sich in Bezug auf eine kollektive Identität gegen ihre Benachteiligung durch Strukturen, Kulturen und Normen der Mehrheitsgesellschaft wehren“. Ihre Strategie besteht darin, Macht zu entblößen, wo sie zuvor nicht sichtbar war.

Wenn Aktivisten zum Beispiel einen Künstler canceln, weil er sich aus ihrer Sicht rassistisch geäußert hat, dann machen sie Schubert zufolge damit auf jene Verhältnisse aufmerksam, die das Erzählen von rassistischen Witzen ermöglichen oder sogar befördern.

Abwehrrechte gegen den Staat

Der Vorwurf, es handele sich bei dem Cancel-Versuch um einen Angriff auf die Kunst- oder Meinungsfreiheit sei im Übrigen nicht triftig, weil diese Grundrechte in erster Linie Abwehrrechte gegen den Staat seien und dessen Organe in der Regel in solchen Auseinandersetzungen gar keine Rolle spielten.

Alles gut also? Sogar noch besser! Denn Identitätspolitik sei nicht allein zum Nutzen der marginalisierten Gruppen, sondern der ganzen Gesellschaft, weil sie Machtverhältnisse zur Disposition stelle und zu ihrer Veränderung anstifte. Sie erweise sich damit als Garant für eine voranschreitende Demokratisierung der Gesellschaft.

Der Autor fordert seine Leserschaft schließlich dazu auf, in sein Lob einzustimmen und Identitätspolitik als unverzichtbares Korrektiv wertzuschätzen. Wenn das nur so einfach wäre! Denn Schubert macht es einem nicht eben leicht, ihm zu folgen.

Schleier zwischen politischer Theorie und Wirklichkeit

Die Politikwissenschaft steht generell nicht im Ruf, gute Autorinnen und Autoren hervorzubringen. „Lob der Identitätspolitik“ aber ist in einem besonders spröden Stil verfasst, der auch auf ein inhaltliches Problem hindeutet.

Die knapp 200 Seiten lesen sich, als wären sie in der hintersten Ecke der Stabi verfasst worden und als hätte der Autor in dieser Zeit noch nicht einmal die Nachrichten verfolgt. Es scheint, als habe sich eine Art Schleier zwischen Argumentation und Welt, zwischen politische Theorie und politische Wirklichkeit gelegt.

Nur ein Beispiel: Die Partei BSW hat sich unter anderem gegründet, weil viele Linken-Politiker wieder verstärkt ökonomisch argumentieren wollten, anstatt sich identitätspolitischen Forderungen zu widmen. Dieser binnenlinke Konflikt prägt die deutsche Parteienpolitik nun seit über einem Jahr in erheblichem Maße.

Schweigen zu konkreten Konflikten

Schubert aber hat hierzu praktisch nichts zu sagen. Solche ganz konkreten Konflikte der Gegenwart spielen für seine Theoriebildung keine Rolle, ist er sich doch sicher, dass Identitätspolitik und Klassenpolitik keinesfalls im Widerspruch zueinander stehen. Ganz im Gegenteil, da ihm zufolge doch schon die Proletarier damals zu Zeiten von Marx und Engels eigentlich Identitätspolitik betrieben hätten.

Was nach dem Versuch einer Versöhnung der gespaltenen Lager klingt, ist in Wahrheit eine feindliche Übernahme. Denn so dargestellt ist tatsächlich nicht Identitätspolitik die neue begründungsbedürftige linke Theorie, sondern umgekehrt die ökonomisch argumentierende Politik: „Die notwendige neue Politisierung von Ausbeutung und Kapitalismus wird es nicht gegen Identitätspolitik geben, sondern nur als eine neue intersektionale Spielart von klassenbezogener Identitätspolitik.“

Es fällt schwer, beim Lesen solcher Sätze nicht an das böse Bild des Elfenbeinturms zu denken. Glaubt der Autor wirklich, dass die Beschäftigten im Niedriglohnsektor sich für eine „intersektionale Spielart von klassenbezogener Identitätspolitik“ gewinnen lassen werden? Wenn ja, sei ihm viel Glück bei der Agitation gewünscht.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })