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Grausam und zauberhaft wie im Märchen. "Die Odyssee" entstand aus 120.000 handgemalten Ölbildern auf Glasplatten.

© Grandfilm

Im Kino: der Animationsfilm "Die Odyssee": Tagebuch einer Vertriebenen

Vom Albtraum der Flucht und dem Wunder des Überlebens: Florence Miailhes fantastischer Animationsfilm „Die Odyssee“ ist zeitlos und hochaktuell.

Die Kindheit, damals im Dorf, ist eine Zeichnung im Skizzenbuch. Der Baum, die Eltern, der Bruder, flüchtige Striche, Konturen. Das Früher ist vergessen, früher ist tot, heißt es einmal. Bis auf die Erinnerung. Die Auslöschung dessen, was war, gehört zu den Grunderfahrungen von Flucht und Vertreibung.

In den Bildern dieses Films wird die Kindheit des Mädchens Kyona förmlich verschlungen, übermalt von all den Erlebnissen während der Flucht mit ihrem kleinen Bruder Adriel, nachdem die Miliz das Dorf niederbrannte. Kyona hält die Geschehnisse in ihrer Kladde fest, ihrer wertvollsten Habe: das Chaos am Bahnhof, das Leben mit den Straßenkindern, den Verkauf an reiche Leute, die Zeit bei der alten Baba Jaga im Winterwald und danach beim Wanderzirkus, die Hölle im Lager und schließlich den Grenzübertritt.

„Die Odyssee“ ist ein Kinomärchen voller Grausamkeiten, aber auch voller Magie, zeitlos und hochaktuell angesichts der ukrainischen Kriegsflüchtlinge, laut UNHCR bereits über fünf Millionen Menschen. Hinzu kommen 7,7 Millionen Binnenflüchtlinge.

Die französische Filmemacherin Florence Miailhe hat ihren Animationsfilm in mehrjähriger Arbeit geschaffen, mit drei Zeichnerinnen-Teams in Toulouse, Leipzig und Prag. Manchmal brauchten sie einen ganzen Tag für eine einzige Sekunde Film. 120 000 Einzelbilder sind so entstanden, handgemalt in Öl auf Glasplatten.

Expressive Landschaften, explodierende Farben, ständig sich ändernde Formen und Gestalten – die Flucht und das Flüchtige passen auf bestürzende Weise zusammen. Miailhe stellt ihre Verwandlungskünste in den Dienst des universellen Albtraums von Flucht und Vertreibung.

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Kyona, heute eine alte Frau, erinnert sich aus dem Off – in der deutschen Fassung leiht Hanna Schygulla der Erzählerin ihre Stimme. Die Flucht wird in Rückblenden geschildert, allmählich füllt sich das Skizzenbuch der 13-jährigen Kyona.

Ein Stationendrama, wie es wohl viele Flüchtlinge erleben: Vor den überfüllten Zügen verlieren die Geschwister ihre Eltern, Adriel wird zum Gelegenheitsdieb, auf der Müllhalde suchen sie nach Verwertbarem, bis sie zu Opfern von Schleppern und Menschenhändlern werden.

Der Film ist Miailhes Urgroßmutter gewidmet, die 1905 mit zehn Kindern aus Odessa floh

Neue Freundschaften und Zweckgemeinschaften entstehen, wem kann man trauen? Die beiden werden verschachert, reißen aus, verlieren auch einander, bis sie sich im Zirkus bei den Akrobaten wiederfinden, die allesamt Geflüchtete sind. Mancher ihrer Weggefährten überlebt nicht. „Mein Herz war ein Sieb geworden“, sagt Kyona, „unterwegs verlor ich immer mehr Menschen.“

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Das Drehbuch hat Miailhe, Jahrgang 1956, gemeinsam mit der Schriftstellerin und Kinderbuchautorin Marie Desplechin geschrieben, es basiert auf Fluchterfahrungen ihrer eigenen Familie. Gewidmet ist der Film allen, die ihr Zuhause verlassen und anderswo auf eine bessere Zukunft hoffen; außerdem Miailhes Urgroßmutter, die 1905 mit zehn Kindern vor den Pogromen aus Odessa flüchten musste.

Im Film sind keine konkreten Orte, Länder, Kriege oder Täter benannt. Aber als Grundlage dienten der Regisseurin Archivfotografien etwa von der Agentur Magnum und die Skizzenbücher ihrer Mutter aus dem Zweiten Weltkrieg. Der Mutter, selbst Künstlerin, gilt die dritte Widmung des Films.

Die Märchenmotive passen bestürzend gut ins Narrativ heutiger Flüchtlinge

Auf diese Weise bleibt der bunt flimmernde Bilderbuchreigen der „Odyssee“ immer der Realität verhaftet. Und trotz des opulenten, vom Filmorchester Babelsberg eingespielten Soundtracks kippt die Erzählung nicht ins Melodramatische. Auch die Märchenmotive etwa aus dem „Kleinen Däumling“ oder aus „Hänsel und Gretel“ fügen sich erschreckend gut ins Narrativ heutiger Flüchtlinge. Der Film, so grausam und zauberhaft, wie nur Märchen sein können, ist übrigens auch für Kinder geeignet. Denn er eröffnet eine fantastische Welt, in der das Leid, die Angst und das Verlassensein Geflüchteter von Schönheit und Wundern umhegt sind, einer Schönheit allerdings, die nie lange währt.

Die Elster wird zu Kyonas Komplizin und trägt als letzte Rettung die Brosche mit dem mörderischen Stachel im Schnabel. Der Löwenkopf am Türknauf kann verschwörerisch fauchen, die Birken haben Augen und die Seiltänzerin schwingt sich in die Lüfte auf, zum Vogel mutiert.

[„Die Odyssee“ startet am Donnerstag in 9 Berliner Kinos: Acud, Kant Kino, Sputnik, Wolf. OmU: Acud, Brotfabrik, IL Kino, Klick, Sputnik, Hackesche Höfe, Tilsiter Lichtspiele. OV: Sputnik]

Neben den unaufhörlichen Metamorphosen besticht die Materialität der Bilder. Der dick aufgetragene Pinselstrich macht den Wellengang bei der gefährlichen Flussüberfahrt augenscheinlich, man fürchtet förmlich, im Blau zu ertrinken. Die Schwärze des Gefangenseins im Bergwerk, die Eiswelt des Winterwalds, der Pfeifenrauch der Baba Jaga, in dem die Reminiszenzen an das sorglose Dorfleben wie Chimären auftauchen, der Papierschnipselschnee, der alles Leben unter seiner Schwerelosigkeit begräbt – jede Episode in diesem Roadmovie der ganz anderen Art gewinnt ihre eigene Farbe, entwickelt ihre eigene Intensität und Stilistik.

Migration bedeutet Ausgeliefertsein. Nichts ist gewiss, alles vorläufig und prekär. Umso kostbarer die Erinnerung, die sich in Kyonas Skizzenbuch manifestiert. „Die Odyssee“ ist auch eine Hommage an die immense, identitätsstiftende Kraft von Erinnerungen und an ihre existenzielle Notwendigkeit.

Es stimmt schon, gegen den Horror der Realität helfen mitunter nur Zaubertricks. Es kann nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn die Welt am Ende in Wiesengrün und Sonnengelb erstrahlt. Ankommen nach der Flucht, so etwas wie Frieden finden, für die meisten Migranten bleibt es ein großer, vergeblicher Traum.

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