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Tagesspiegel-Autor Harald Martenstein bei der Berlinale.
© Thilo Rückeis

Harald Martenstein (3): Täglich betroffen

Filme über Transgender-Jugendliche, Filme über Rentnerschicksale: Berlinale-Besucher werden mit vielen gesellschaftlichen Problemen konfrontiert. Immer betroffen zu sein, ist gar nicht mal so leicht.

Wenn man sich, zum Beispiel bei einer Berlinale, jeden Tag mit gesellschaftlichen Problemen, schweren Schicksalen und Randgruppen beschäftigt, wird man dadurch interessanterweise nicht unbedingt sensibler für Probleme und Randgruppen. Man härtet, im Gegenteil, irgendwie ab. Jeden Tag betroffen sein, das ist, als ob man jeden Tag Kaviar isst. Nach einer Weile weiß man gar nicht mehr, wie Kaviar schmeckt.

Ich wollte mir „Romeos“ ansehen, einen Panorama-Film über Transgender-Jugendliche. Normalerweise, wenn keine Berlinale herrscht, würde ich das wahrscheinlich nicht tun. Ich respektiere diese Gruppe, aber weil ich weder jugendlich bin noch transgender noch jemanden näher kenne, der Letzteres ist, wäre ich nicht ausreichend motiviert, obwohl ich weiß, dass man sich für alles interessieren muss. Alle wollen, dass man sich immer für alles interessiert. Ich schaffe es einfach nicht. Aber bei einer Berlinale tut man es. Der Transgender-Film war dann völlig überfüllt, ich kam nicht hinein und war ein bisschen beleidigt. Obwohl das die falsche Haltung ist.

Ich bin, statt in den Gender-Blockbuster, einfach nach dem Zufallsprinzip in irgendein Kino gegangen, es lief ein italienischer Film über einen Rentner, der gerne eine Freundin gehabt hätte, aber seine 95-jährige Mutter lässt es nicht zu. Ein Film über ein typisches Problem der alternden Gesellschaft, das hätte mich ansprechen müssen, es war aber sterbenslangweilig. Wenn ich mich langweile, ziehe ich immer meine Uhr aus und spiele damit. Nach 30 Minuten verließ ich das Kino. Draußen stellte ich fest, dass ich die Uhr im Kino vergessen hatte.

Ich stand vor dem Kino und wartete auf das Ende des Rentnerschicksals. Mir fiel auf, dass man bei jeder Berlinale dieselben Leute sieht, die jedes Mal ein Jahr älter sind. Es gibt zwei Arten des Alterns. Die einen verhutzeln, wie eine Pflaume, die an der Heizung liegt. Die anderen, darunter auch ich, gehen auf wie eine Dampfnudel. Leider verwandeln wir uns nicht in „Milch und Honig“, nicht mal in „Grünkohl mit Pinkel“, sondern in „Pflaumen und Dampfnudeln“. Dann war der Rentnerfilm zu Ende, die Uhr lag unter dem Sitz, und die Nacht war noch jung.

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