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Sven Ratzke TANZ AUF DEM VULKAN 1
Foto: Ann-Marie Schwanke/Siegersbusch

© Ann-Marie Schwanke/Siegersbusch

„Tanz auf dem Vulkan“ im Renaissance-Theater : Das Sehnsuchtsjahrzehnt

Hommage an Weill und die Weimarer Republik: Sven Ratzke und das Matangi-Quartett führen zurück in die verrückte Zeit am Schiffbauer Damm.

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Es muss ja einen Grund dafür geben, dass die 1920er Jahre bis heute als Sehnsuchtsjahrzehnt durchgehen. Vor allem die Zwanziger in der Hauptstadt, die Babylon-Berlin-Ära. Klar, den größten Appeal dürften die vielbeschworenen Ausschweifungen haben, die wilden Nächte irgendwo zwischen dem Hautevolee-Tempel „Himmel und Hölle“ und dem „Hundejustav“. Nacktrevuen, Koks und Schampusbrunnen – das klingt ja auch besser als Wet-T-Shirt-Contest am Ballermann.

Nicht zu vergessen: Musikalisch waren es wirklich gute Jahre. Was untrennbar auch mit dem Namen Kurt Weill verbunden ist. Mit dem steigt der Schauspieler, Sänger und Entertainer Sven Ratzke jetzt am Renaissance-Theater in den Ring. Was wörtlich zu nehmen ist, Bühnenbildner Momme Röhrbein hat Ratzke eine Arena mit Seilen für seinen Abend „Tanz auf dem Vulkan“ gebaut.

Einen sportlichen Kampfplatz, wie ihn der Boxfan Bertolt Brecht so liebte, der als Weills lyrischer Sparringspartner natürlich auch gewürdigt wird. Schon gleich zu Beginn, mit dem Heimleuchterlied „Berlin im Licht“: Komm, mach mal Licht, damit man sehn kann, ob was da ist …

Unterwegs mit Josephine Baker und Anita Berber

„Tanz auf dem Vulkan“ ist aber keine dieser 20er-Jahre-Revuen, wie sie jedes zweite Kellertheater im Repertoire hat. Auch kein „literarischer Streifzug“ durch die längst ausgetretenen Anekdotengefilde des ach so sündigen Berlin.

Das Matangi-Quartett rund um Sven Ratzke schrauben die Weill-Songs auseinander und setzen sie neu zusammen.

© Ann-Marie Schwanke/Siegersbusch

Nein, Ratzke gibt seiner Hommage an Weill und die Weimarer Republik eine wirklich eigene Note. Noch mitnehmender als vor Jahren, als er im Programm „Ich hab‘ den Groschenblues“ schon mal mit Weill und Brecht unterwegs war (wobei aus rechtlichen Gründen die „Drei“ vor den Groschen wegfallen musste).

Dass dieser Abend so glückt, liegt zum einen an der Mischung aus Showtalent, sarkastischer Frivolität und extrem wandelbarer Stimme, die ihn auszeichnet – ob im Bowie-Programm „Starman“ oder als Marlene Dietrich (ebenfalls im Renaissance-Theater). Und es ist Matangi zu verdanken – einem Streichquartett, bestehend aus den Violinistinnen Hannelore De Vuyst und Maria-Paula Majoor, dem Bratschisten Karsten Kleijer sowie Arno van der Vuurst am Cello. Gemeinsam mit Ratzke im Ring schrauben diese klassischen Musiker die Weill-Songs auseinander und setzen sie neu zusammen, in großartigen Arrangements von Christian Pabst.

So entsteht zum Beispiel eine leuchtende Version der „Moritat von Mackie Messer“, die Ratzke zu gezupftem Cello eher flüstert als singt. Wobei er sich nicht auf die Hits aus der Bettler-Oper beschränkt, sondern auch so schöne Weill-Nummern wie „Surabaya Johnny“ oder den „September Song“ bringt (mit dem Text von Robert Anderson). „Lost in the Stars“ ist eine der Zugaben, das Habanera-Tango-Stück „Youkali“ zählt zu den Highlights des ersten Teils – das schrieb der jüdische Komponist schon im französischen Exil.

Trotzdem ist die „Dreigroschenoper“ ein Dreh- und Angelpunkt dieser One-Man-Show. Denn in den Erzählungen zwischen den Liedern führt Ratzke zum Premierenabend der unerwarteten Musiktheater-Sensation am Schiffbauer Damm zurück, ins Jahr 1928. Es geht um deren chaotische Entstehungsgeschichte und die prägenden Figuren jener Zeit.

Ratzke lässt Weill und Brecht verdruckst vor der Adlon-Suite der Tänzerin Josephine Baker aufmarschieren, die damals als erotische Sensation gehandelt wurde, springt mit Anita Berber nach New York, wo in der Neuen Galerie das Otto-Dix-Gemälde hängt, auf dem sie verewigt ist. Und wo noch viele andere Werke gesammelt sind, die von den Nazis für „entartet“ erklärt wurden.

„Heute, hundert Jahre später, sehen wir wieder die Anzeichen“ – das sagt Ratzke gegen Ende über den möglichen Beginn einer neuen dunklen Epoche. Zugleich erklärt er auch, was in seinen Augen den Zauber der 1920er ausmachte: „Es war eine Zeit, in der Anderssein nicht irritierte, sondern inspirierte.“

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