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Dirigent John Wilson

© Chris Christodoulou

Hollywood-Musik in der Philharmonie: Technicolor für die Ohren

Der britische Dirigent John Wilson erweckt mit seinem Orchester Klassiker der Hollywood-Filmmusik zu neuem Leben. Beim Musikfest kann jetzt auch das Berliner Publikum den prachtvollen Sound hören.

Fans können Künstler ja nie genug haben. Ein besonderes Glück aber ist es, wenn man Simon Rattle zu seinen Bewunderern zählen darf. Dann nämlich nutzt der Chef der Berliner Philharmoniker womöglich sogar die Pressekonferenz des eigenen Orchesters, um Werbung für einen geschätzten Kollegen zu machen. „Don’t miss this concert!“, riet Rattle mit Blick auf den 4. September, wenn John Wilson sein Berlin-Debüt geben wird. Denn hier sei „eines der besten Orchester der Welt“ zu erleben. Das übrigens nach demselben Prinzip funktionierte wie das Bayreuther Festspielorchester.

Lediglich mit dem kleinen Unterschied, dass John Wilson und seine Truppe keine Wagner’schen Musikdramen spielen, sondern Klassiker des Soundtracks. „A Celebration of the MGM Film Musicals“ heißt das Programm, mit dem sie sich im Rahmen des Musikfestes Berlin vorstellen werden.

Das Rekrutierungsprinzip allerdings funktioniert bei dem britischen Projektensemble genauso wie beim Fränkischen Opernfestival. Hier finden sich ausschließlich Enthusiasten zusammen, Profis, die hauptberuflich in anderen Orchestern arbeiten, aus Liebe zur Sache aber gerne ihre Freizeit opfern, um dabei sein zu können. Seit 1994 feilt John Wilson nun schon daran, den originalen Hollywood-Sound der 30er bis 50er Jahre zu neuem Leben zu erwecken, 2010 gelang ihm der Durchbruch, als sein Orchester zu den BBC Proms in die Royal Albert Hall eingeladen wurde. Der Saal tobte, und per Fernsehübertragung erlebten weitere 3,5 Millionen Briten die Renaissance eines legendären Sounds: Was Wilsons tolle Truppe zauberte, war nicht weniger als Technicolor für die Ohren.

Ein üppig-luxuriöser Klang

Seitdem sind die sommerlichen Auftritte des John Wilson Orchestra in London Kassenmagneten – und der Dirigent kann sich kaum vor Bewerbern retten. „Manchmal haben wir eine Besetzung von 30 Geigern – und 27 sind normalerweise Konzertmeister", erzählt der 43- jährige Maestro. „Aber auch viele junge Musiker kommen zu uns, die sonst in Kammermusikformationen oder Streichquartetten spielen. Für die Bläser-Sektion wiederum rekrutieren wir Musiker aus dem Jazzbereich. Dadurch entsteht eine ungewöhnliche Kombination von Leuten, die aber eines gemeinsam haben: Sie lieben diese Art von Musik.“

Jenen üppig-luxuriösen Klang, den der Musikfilmproduzent Arthur Freed im Sinn hatte, als er seine Soundtrack-Macher aufforderte: „Do it big, do it right, give it class“. „Meet me in St. Louis“, „Brigadoon“, „Seven Bridges for seven Brothers“, „Kismet“ – diese Filme kennt in Großbritannien jeder. In Deutschland dagegen dominierten während der goldenen MGM-Ära heimische Heimat- und Operettenfilmproduktionen den Markt. Darum sind viele der ganz großen Hollywood-Blockbuster aus den 30er bis 50er Jahren hierzulande bis heute Geheimtipps. Immerhin: Aus dem Programm, das John Wilson in der Philharmonie präsentieren wird, dürften zumindest „Ein Amerikaner in Paris“, „Singing in the Rain“ und „High Society“ wohlige Wiedererkennungseffekte auslösen.

Gemeinsamkeiten zwischen Simon Rattle und John Wilson

Das Geheimnis des prachtvollen Sounds, der vor allem in der Streichergruppe durch eine extrasüße Sahnigkeit fasziniert, liegt für John Wilson in der inneren Einstellung der Mitwirkenden: „Jeder muss bei uns so spielen, als wäre er ein Solist, niemand darf sich in der Gruppe verstecken. Ich wünsche mir meine Mitstreiter furchtlos, risikofreudig, spontan und selbst dann immer uneingeschränkt aufmerksam, wenn sie nicht dran sind.“ Letztlich, findet der Brite, sei das genau jene Einstellung, wie sie die Berliner Philharmoniker prototypisch repräsentieren: „Hier spielen lauter Individuen, die sich freiwillig zu einer Gruppe zusammengeschlossen haben.“

Eine ganze Reihe Gemeinsamkeiten gibt es auch zwischen Simon Rattle und John Wilson. Beide wurden im Norden Englands geboren, beide lernten als Kind neben Klavier auch Schlagzeug, und beide haben schon als Jugendliche all ihre musizierenden Bekannten zusammengetrommelt, um in eigenen Orchestern Praxiserfahrung sammeln zu können.

„Ich selber habe nie einen Unterschied gemacht zwischen George Gershwin und Franz Schubert“, erklärt Wilson. „Und darum ist Simon Rattle genau der Typ Dirigent, den ich mag: Einer, der keine Vorurteile kennt. Er hat den weitesten stilistischen Radius, den man sich denken kann – und in diesem riesigen Repertoire bewegt er sich mit enormer Autorität. Er ist einfach super!“

Unterhaltungsmusik "wie ein toller Nachtisch"

Kein Wunder, dass es Wilson als besondere Ehre empfindet, in den heiligen Hallen der Berliner Philharmoniker auftreten zu können. Jene weißen Dinnerjackets, die viele britische Orchester bei Konzerten im Sommer tragen, wird man am 4. September allerdings nicht zu sehen bekommen. „Darin“, findet Wilson, „sieht man doch aus wie ein Kellner!“ Umso bunter wird es in musikalischer Hinsicht. Viele der MGM-Filmmusik-Partituren musste Wilson übrigens mühevoll rekonstruieren, weil die Studios das Notenmaterial einfach wegschmissen, sobald der Film im Kino angelaufen war. „Damals ging es nur um Profit. Niemand dachte daran, Notenblätter einzulagern, womöglich gar in einem klimatisierten Archiv. Nein, das Zeug war Einwegware. Als ich begann, diese Werke zu spielen, musste ich feststellen, dass alles zerstört war, selbst von oscarprämierten Künstlern wie André Previn.“ Immer und immer wieder hat sich John Wilson darum die Aufnahmen vorgespielt und die einzelnen Stimmen nach dem Gehör notiert.

Mit seinen „Light music“-Abenden ist John Wilson bekannt geworden, tatsächlich aber machen die Projekte mit seinem eigenen Orchester nur 20 Prozent seines Berufslebens aus. Die übrige Zeit verbringt er mit „normaler“ Klassik, vor allem beim RTÉ Concert Orchestra des irischen Rundfunks, dessen Chef er seit 2013 ist. „Es gibt einfach nicht genug erstklassiges Material im Bereich der Unterhaltungsmusik, um darauf eine Karriere aufbauen zu können“, findet er. „Darum ist sie für mich wie ein toller Nachtisch. Karajan hat mal gesagt: Leichte Unterhaltungsmusik ist meine Medizin. Und von Pierre Boulez stammt das Zitat: Zum Zähneputzen macht man sich ja auch nicht den Parsifal an.“ Philharmonie, 4. September, 19 Uhr. Weitere Infos: www.berlinerfestspiele.de

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