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Wiener Elite. Denis Podalydes und Audrey Bonnet in „Architecture“.

© AFP/G. Julien

Theaterfestival in Avignon: Von Nazi-Deutschland bis Gelbwesten

Das Theaterfestival von Avignon stürzt sich in die europäische Geschichte. Ein ehemaliger französischer Präsident überrascht mit einem Gastauftritt.

Glücklich, wer sich aus sicherem Abstand die Weltgeschichte anschauen kann, ohne je von ihr betroffen zu sein. Wer nicht in Überlebenskämpfe verwickelt wird, keine heroischen Taten vollbringen muss, aus denen Mythen werden könnten. Das Privileg realer Mythenlosigkeit kennt nur, wer auf Inseln des Reichtums lebt. Die Heroen des abendländischen Bildungskanons sind heute allesamt Habenichtse, denen ihre Heimat weggebombt wird, oder die vertrieben werden von internationalen Agrarkonzernen .Die auf Reisen sind aus Zwang.

Mit Homers „Odyssee“ im Gepäck und begleitet von einer Filmcrew hat die in Brasilien aufgewachsene Regisseurin Christiane Jatahy die Armen im Nahen Osten, am Amazonas, aber auch im Südafrika besucht. Sie hat sie befragt und Teile des alten Textes vorlesen lassen. Ihr Stück „Le Présent qui déborde“ ist der zweite Teil ihrer Reihe „Notre Odyssee“ und Beispiel für das, was sich das Festival Avignon in diesem Jahr vornimmt. Die große Geschichte wieder als unsere Geschichte zu begreifen.

Den Anfang machte im Papstpalast Pascal Rambert mit „Architecture“. Das ist eine vierstündige Familiensaga um einen alternden Architekten. Die Welt der Intellektuellen und Künstler im Untergang der KuK-Monarchie soll erzählt werden, die Zeit von 1911 bis zum so genannten „Anschluss“ an Nazi-Deutschland 1938.

Die Lehren des Textes verhallen folgenlos

Architektenpatriarch Jacques herrscht über eine Schar von Söhnen und Töchtern und deren Ehemänner und Ehefrauen. Sie sind Komponist, Journalist, Psychoanalytikerin, Offizier; Menschen, denen die gehobene gesellschaftliche Stellung einen komfortablen Blick auf die sich verdüsternde Weltgeschichte erlaubt. Dieser Standpunkt ist der Grund für ihr Scheitern als historische Subjekte. Die Wiener Elite richtet einfach nichts aus gegen den Untergang ihrer Welt und ihrer Werte im Ansturm des Nationalismus und der Nazis.

Aber die Lehren des großwollenden Textes verhallen folgenlos. Denn Pascal Ramberts Personen sind, trotz hochgradiger Besetzung unter anderen durch Starschauspieler wie Emmanuelle Béart und Jacquer Weber, nur Figurenskizzen im Familiendrama. Unversehens werden sie zum Vehikel für gedankliche Konzepte, scheren aus dem Psychosystem aus in lange mäßig poetische Exkursionen. Aus dem historischen Scheitern ergeben sich für uns heute keine Rückschlüsse. Dabei hätte man gerne mit Hilfe der Geschichte erfahren, warum die intellektuelle Elite an Veränderung in Politik und Gesellschaft heute wieder scheitert. Sie scheint angesichts des wachsenden politischen Erfolgs autoritärer, patriarchaler Führungsfiguren genauso ratlos wie Ramberts Künstlerfamilie der 1910er bis 1930er Jahre.

Liebe in Zeiten des Algerienkrieges

Die rumänischstämmige Dramatikerin und Regisseurin Alexandra Badea setzt mit „Quais de Scène“ ihre Reihe mit Stücken über verdrängte, unrühmliche Momente in der Geschichte der Grande Nation fort. Das sind theatrale Ermittlungen von Hintergründen, zu der Frage, wie sich die französische Geschichte in die Biographien ihrer Figuren einschreibt und daraus ein Familientrauma entsteht. Unter dem leidet eine junge Frau mit Selbstmordtendenzen in ihrer Suche nach der im Dunklen liegenden Familiengeschichte. Szenen ihrer Therapie wechselt mit sehr filmisch beleuchteten Szenen in einem zentralen Guckkasten in der Bühnenmitte. Da sieht man, in kunstvollem Streiflicht ein Liebespaar: Younès und Irène im Paris der früher 1960 Jahre, zu Zeiten des Algerienkrieges. Irène hat sich ihrer Familie von Algerienfranzosen entfremdet, Younès ist ein gebürtiger Algerier, der seine Eltern im Massaker von Sétif verloren hat. Ihre Liebe scheitert letztlich an der Geschichte: Krieg in Algerien und blutige Repression der Algerier in Frankreich. Alexandra Badea meistert auf der Bühne, was dort selten gelingt. Das große historische Bild scheint durch die kleine private Geschichte hindurch, ohne die Figuren zu erschlagen.

Die Aufführung verzichtet außerdem auf illustrierendes Dokumentarmaterial und Videoprojektionen jeder Art. Dabei entstehen Räume fürs Kopfkino des Publikums: Für kurze Momenten werden Younès und Irène zu nationalen Allegorien, Bildern für eine tragisch scheiternde Beziehung zwischen Frankreich und Algerien. Die inzwischen in Frankreich eingebürgerte Rumänin Badea, deren Dramatik man auch in Deutschland kennt, wird in ihrer Reihe "Points de Non-Retour" zur Theatertherapeutin für französische Traumata. Sie, die Immigrantin betätigt sich im Dienste der neuen Heimat als Theaterheilerin. Solche Geschichten braucht Europa und solche Geschichten braucht das Festival in Avignon, das in diesem Jahr ganz offensichtlich auch Flagge gegen die aktuelle, europafeindliche Stimmung zeigen will.

Ex-Präsident Hollande betritt die Bühne

Und noch mehr große Historie: „Nous, l'Europe, Banquet des Peuples“. Laurent Gaudé hat eine frei assoziierende Textkollage zu Momente der europäischen Geschichte verfasst, zu der Nazivergangenheit genauso gehört wie die aktuelle Flüchtlingskrise und der Mauerfall. Roland Auzet hat das als performatives Konzepttheater ziemlich laut und flott inszeniert. Rings um die gewaltige Bühne sitzt der große Chor der Oper Avignon.

Das Pop-Theater mit Evergreens und einem Mix von Europathemen geht so dahin, bis sich das Publikum verwundert die Augen reibt, weil nun Ex-Präsident François Hollande leibhaftig die Bühne betritt und auf die Fragen der Performer antwortet. Vor dem Hintergrund der letzten Monate und der Gelbwestenbewegung sagte er, dass das einfache Volk in den Kriegen des 20. Jahrhunderts immer als erstes den Blutzoll entrichtete, dass der europäische Frieden also vor allem für die einfachen Leute wichtig ist. Die Politik müsse schleunigst den Kontakt zum einfachen Volk wieder aufnehmen.

Am Ende intoniert das internationale Ensemble „Hey Jude“ von den Beatles mit dem an Politiker appellierenden Refrain „Make it better“. Man kann sich Europa auch schön singen. Ist das noch Pop oder schon Populismus von links?

Eberhard Spreng

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