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Kultur: Transfer aus dem Tabu

Von Wroclaw nach Berlin: ein polnisch-deutsches Theaterprojekt über Krieg und Vertreibung

Ein Satz mit vielen Fehlern, voller Provokationspotenzial und auch mit einem Hauch von Wahrheit: „Breslau ist so schön, dass die Polen jetzt ihr Geld damit verdienen.“ Der alte Herr aus Deutschland sagt dies ohne Bitterkeit. Stolz schwingt in seinen Worten mit – auf seine alte Heimat, die von den Touristen, deutschen zumal, wiederentdeckt wird und die der britische Historiker Norman Davies die „Blume Europas“ nennt.

Ein anderer Herr, ein Pole, gleichfalls um die Achtzig, erzählt seine Geschichte: „Für mich gehörte Niederschlesien immer zu Polen. Das wurde mir so beigebracht, dass wir nach Niederschlesien zurückkommen, aber ich habe nicht geglaubt, dass wir dafür unsere besten Gebiete im Osten an die Russen abtreten müssen. Das war ein hoher Preis.“

„Transfer!“, ein Schlesiertreffen der anderen Art. In Wroclaw, auf der Bühne des Teatr Wspólczesny. Zehn Zeitzeugen reden über die Vergangenheit, je fünf aus Polen und aus Deutschland. Jeder in seiner Sprache, über Kopfhörer wird dem Publikum die Übersetzung eingesprochen. Ein unerhörtes Projekt, nach über sechzig Jahren. „Die Geschichte kommt zurück, nichts ist gelöst“, sagt der Regisseur Jan Klata, der in Polen zu den jungen Wilden zählt.

Vertreibung, Flucht, Verlust der Heimat – Klata will das Thema nicht den Revanchisten und Nationalisten überlassen. Und er fügt hinzu: „Bald leben diese Menschen nicht mehr, denen wir heute noch zuhören können. Müssen!“ Lange Zeit haben sich in der Bundesrepublik allein die Vertriebenenverbände auf Schlesien geworfen und die Historie zu einer für die Mehrheit unappetitlichen, gestrigen Veranstaltung gemacht. In Polen war die Frage der Zwangsumsiedlung und der Gebietsverluste während der kommunistischen Herrschaft strikt tabuisiert. Wroclaw, Breslau. Eine Stadt, so viele Tabus. Von Hitler zur „Festung“ erklärt und dem Untergang befohlen, von der Roten Armee plattgewalzt. Im 19. Jahrhundert zu einem kulturellen Zentrum aufgestiegen – und nach 1945 ein Ort der Anarchie und kommunistischer Willkür, der „Wilde Westen“ Polens. Heute ein Reiseziel in der EU.

Klatas „Transfer!“ berührt blinde Flecken. Er hat etwas geschafft, das bisher noch nicht gelang, auch nicht in der großen Berliner Ausstellung „Erzwungene Wege“. „Transfer!“ ist eine gemeinschaftliche Unternehmung von Polen und Deutschen, die erste dieser Art. Auf deutscher Seite haben das Goethe-Institut, der Hauptstadtkulturfonds und das Berliner Hebbel am Ufer die Koproduktion getragen; in Berlin ist „Transfer!“ vom 18. bis 20. Januar im HAU 1 zu sehen.

Eine einfache, manchmal schwer erträgliche Botschaft: Das Leid und die Last der Geschichte lassen sich nicht gegeneinander aufrechnen. Die Erzählungen der Alten – oft anekdotisch, unspektakulär, aber was ist im Krieg noch persönlich? – haben gleichwertigen Rang. Man mag das Auswahlverfahren bezweifeln, aber kaum die Kraft und den Sog der Erinnerung. Die zehn wurden auf ihre Bühnentauglichkeit hin gecastet, nach dem Aufruf des Theaters hatten sich über achtzig Menschen gemeldet, deren Schicksal sich auf die eine oder andere Art mit Breslau und Wroclaw verbindet.

Niemand wirft sich hier in Pose. Aber es ist klar: Auch Deutsche waren Opfer. Vor der Uraufführung im November gab es einige reflexhafte Proteste. Die Kritiken fielen sachlich und überwiegend positiv aus. Denn man kann sich, gleich welcher Nationalität man ist, der leisen Stimmgewalt dieses gemischten Chores kaum entziehen. Im klassischen Sinn erlebt man eine Mauerschau: den Bericht vom Schlachtfeld und seinen Rändern. So begann, vor 2500 Jahren, die Geschichte des europäischen Theaters. Mit dem Versuch, das Unfassbare des Kriegs in Worte zu fassen. Mit einem Appell an die Empathie.

Klata suchte in der Stadt der Theaterlegende Jerzy Grotowski nicht das ästhetische Experiment. Die Radikalität seiner Inszenierung liegt in der Sache selbst. Und doch waren ihm die Zeugenberichte der Großvätergeneration nicht genug. Über ihnen thronen, wie auf einem Blutgerüst, drei Männer in Uniform. Stalin, Roosevelt, Churchill. Drei Hanswurste und Schlächter, und hier gibt es eine klare Hierarchie. Stalin kujoniert seine Staatsgäste – es handelt sich um die Konferenz von Jalta – nach Belieben. Polens Verschiebung nach Westen: eine Farce in Klatas Dialogen. Roosevelt kennt sich nicht aus mit Geografie, Churchill schweigt, und Hitler war bekanntlich zum Treffen der künftigen Siegermächte nicht geladen.

Taub für das Elend der Völker, so spielt sich das Triumvirat auf. Es sind Schauspieler vom Teatr Wspólczesny, die sich im Stil eines „König Ubu“ einen Dreck um Moral und Menschlichkeit scheren. Oben die Profis, geübte Lügner. Unten die Theaterlaien, die Davongekommenen. Als hätte Stalin allein die Polen auf dem Gewissen. Und da ist „Transfer!“ dann doch ein polnisches Stück. Attacke auf ein Geschichtsbild, das nach dem Zweiten Weltkrieg, den Deutschland begonnen hat, von den Russen diktiert wurde. An diese Wunden kann eine deutsch-polnische Verständigung nicht rühren.

Rüdiger Schaper

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