zum Hauptinhalt
Singe, wem Gesang gegeben. Hausrotschwanz, Phoenicurus ochruros.

© mauritius images

Twitter: Sternzeichen Plaudertasche

Es ist eine sagenhafte Erfolgsgeschichte, wenn auch ohne klares Geschäftsmodell: Wie der Onlinedienst Twitter dem literarischen Aphorismus zu neuer Blüte verhilft.

Seit 2006 gibt es den kostenlosen, von Risikokapitalgebern gestützten Kurznachrichtendienst Twitter. Von Null auf weltweit 50 Millionen Mitteilungen täglich hat es die Plattform seitdem gebracht, Gauck-Hype und Kristina-Schröder-Bashing dieser Tage eingeschlossen. Das zweizeilige Mikro-Blogging wird als politisches Informationsmedium eingesetzt, vor allem aber als Dauerwerbesendung in eigener Sache. Kaum eine Marke oder Institution, kaum ein Schauspieler oder Politiker, der nicht twittert.

Unter die sendungsbewussten Ich-Darsteller haben sich in den letzten Jahren auch Pseudonyme gemischt – etwa KatjaBerlin. Neulich zum Beispiel fing fing ihr Angestelltentag trist an – „das einzig Spannende heute ist mal wieder nur mein Schlüppergummi“ – und ging dann trostlos weiter: „Es ist aber auch schwierig, keine Kinder und keine Karriere unter einen Hut zu bringen.“ Nach Feierabend tröstet sie sich: „Ich trinke ja eigentlich fast nie alleine. Meistens sind Würdelosigkeit und Tristesse mit von der Partie.“

Es ist eine Fortsetzungsgeschichte, die KatjaBerlin schreibt, nicht allzu überraschend, aber von hohem Unterhaltungswert. Andere Autoren nennen sich „haekelschwein“ oder „HappySchnitzel“, „AdamsAlexander“ oder „Propinja“, „kater__moss“ oder „gallenbitter“. Was sie eint, ist nicht der ungefilterte Mitteilungsdrang, sondern dass sie Twitter zu einer Art Kleinkunstbühne machen.

„Kann ich dir sonst noch was anbieten“, fragt RocketJane, „Mantel? Taxi?“ I_need_coffee ergänzt lakonisch: „Wish you were beer.“ Auch Witze auf Kosten des anderen Geschlechts gehen immer. Ein Haiku von texter_blog: „Mann hat die Küche geputzt. Süß. (Mach ich später nochmal.)“ Ein Monolog von muserine: „Natürlich höre ich dir zu, ich fand diesen Gedanken, den ich eben hatte, nur interessanter.“ Ein Beziehungsgespräch, nacherzählt von Propinja: „Warum kannst du mich nicht lieben, wie ich bin?“ – „Weil du doof bist.“ Eine Charakterstudie von miabernstein: „Sternzeichen Labertasche. Aszendent Konjunktiv.“

Vermutlich sind die Texte im Kern autobiografisch, aber das ist nicht der Punkt. Unter den Humoristen herrscht rhetorischer Ehrgeiz, es geht um die Ästhetisierung der Nabelschau. Eine gelungene Kurznachricht, neudeutsch Tweet, gilt als Perle der Popkultur – prägnant, post-romantisch, kreuz- und querverweisend: „To-Do-Lüste.“ – „Kapierstau.“ – „Heulschnupfen.“

Die Themen ähneln sich. Die Einsamkeit vor dem Bildschirm ist, natürlich, einLeitmotiv. Weitere Dauerbrenner sind Liebesleid, Schlaflosigkeit, Selbstzweifel – und Hunger. „Immer wieder sonntags: Mein geschicktes Taktieren ermöglichte dem Nichts seinen großen Auftritt im Kühlschranklicht.“ Die vorläufige Zusammenfassung des gemeinsamen Lebensgefühls lieferte vor einigen Monaten diktator: „Würde es das Twittern nicht sehr erleichtern, wenn wir das Gefühl ,alleine, leicht betrunken und ein wenig geil’ einfach ,qwertzu’ nennen?“

Es ist die Wiedergeburt des Aphorismus in digitalem Gewand. Ein Massenphänomen ist das noch nicht; die Zahl der Leser bewegt sich im unteren vierstelligen Bereich. Auch bei Twitter dominieren die eingeführten Marken. Die Top Ten der deutschen Charts werden – je nach Zählverfahren – angeführt von Spiegelonline, Dieter Nuhr oder Sascha Lobo. Alle drei kommen jeweils auf rund 35 000 bis 40 000 Follower.

Trotzdem beginnt sich um den literarischen Zirkel eine kleine Infrastruktur anzusiedeln. Auf der Seite twitkrit.de bespricht ein eingefleischtes Trüppchen täglich die besten Tweets, man hat auch schon Textsammlungen auf Lesungen vorgestellt. In Berlin trifft sich die Szene regelmäßig zum Austausch. Und im Herbst erscheint im Pons-Verlag ein erstes Buch: „Twitter – Das Leben in 140 Zeichen. Wahre und kuriose Tweets aus dem Web.“

Mit dem Schritt zum Buch knüpfen die Twitterautoren endgültig an ihre Vorgänger an. Dabei war das Genre immer ein literarisches Stiefkind. Die Herausgeber der jüngsten Anthologie „Neue Deutsche Aphorismen“ (Edition Azur, Dresden 2010, 288 Seiten, 20 €) mühen sich sehr, das „zarte Gewächs“ gegen den Vorwurf des Unkrauts zu verteidigen.

Lange war umstritten, was genau ein Aphorismus überhaupt ist: ein Fragment, eine Skizze, ein philosophischer oder moralischer Leitsatz? Friedemann Spicker fasst in seiner 2007 erschienenen „Kurzen Geschichte des deutschen Aphorismus“ den Begriff betont weit, als „die treffsichere Darstellung der variablen Vielfalt des Menschlich-Widersprüchlichen“. Georg Christoph Lichtenberg hielt den Aphorismus eher für eine Schreibstrategie: „Schmierbuch-Methode bestens zu empfehlen. Keine Wendung, keinen Ausdruck unaufgeschrieben lassen. Reichtum erwirbt man sich auch durch Ersparung der Pfennigs-Weisheiten.“

Ihre Pfennigweisheiten haben die bekannten deutschen Aphoristiker zu Lebzeiten trotzdem nur selten veröffentlichen können. Lichtenbergs Sudelbücher erschienen erst Anfang des 20. Jahrhunderts ungekürzt. Auch bei Jean Paul lagen die Aphorismen lange im Nachlass verborgen. Goethe veröffentlichte seine Denksprüche gelegentlich in Zeitschriften oder integrierte sie in seine Romane. Erst Nietzsche erhebt das philosophische Bruchstück zum stilprägenden Element; und Karl Kraus füllt Anfang des 20. Jahrhunderts mit seinen, wie er sie nennt, „Abfällen“ und „Splittern“ eine ganze Ausgabe seiner Zeitschrift „Die Fackel“. Ab 1909 bringt er seine Aphorismen dann auch selbstbewusst auf den Buchmarkt: „Es gibt Schriftsteller, die schon in zwanzig Seiten ausdrücken können, wozu ich manchmal sogar zwei Zeilen brauche.“ Trotzdem bleibt das Buch, wie die Zeitschrift, immer nur ein Kompromiss, eine Notlösung. Sein ideales Medium findet der Aphorismus bis ins späte 20. Jahrhundert nicht.

Erst mit Twitter scheint die Gattung nun endlich in ihrer natürlichen Umgebung angekommen zu sein. Sekundenschnell erreichen die Miniaturtexte hier ihre Zielgruppe, ohne Druckkosten, ohne Umweg über einen Verleger. Und auch eine andere leidige Diskussion der Aphorismusforschung ist im Netz vorerst beendet worden. „Wie lang ist Kürze? Und wie kurz?“, hatte Spicker noch vor drei Jahren gefragt. Twitter hat darauf eine rigorose technische Antwort gegeben: 140 Zeichen und nicht ein Komma mehr.

Die Einschränkung wird nicht als Mangel empfunden, sondern als Herausforderung – und als Ansporn zu sprachlicher Schärfe. Ähnlicher Ansicht war auch Ernest Hemingway, der seine legendäre Sechs-Wort-Geschichte angeblich für eines seiner wichtigsten Werke hielt: „For sale: baby shoes. Never worn.“

Auf Twitter hätte er die Wirkung des Textes unmittelbar überprüfen können. Denn gelungene Tweets werden von den Lesern mit Sternchen belohnt. „Faven“ wird das genannt, von „favorisieren“. Wer die meisten Sternchen hat, führt auf einer weiteren Website, bei de.favstar.fm, die Beliebtheitscharts an. Auf den vordersten Plätzen finden sich tochtervon mit „Langweilst du dich auch so wie mich?“, der vergraemer mit „Habe die Zugdurchsage aus dem ICE nach Hamburg als Klingelton auf meinem Handy. Bei meinen Mitreisenden im ICE nach Basel herrscht Unruhe“, sowie 343max mit „Ihr werdet euch noch wünschen, wir wären politikverdrossen.“

Das Ranking spiegelt die ganze Bandbreite vom Politkommentar über Situationskomik bis hin zum Psychogramm. Gerade bei Letzterem überwiegen die weiblichen Talente. In ihren besten Texten schaffen sie die Balance zwischen Melancholie und Pointe: „Man friert, ist nackt und fühlt sich alleine. Doch hat man sich überwunden, soll es plötzlich nie mehr enden. ‚Liebe?‘ – ,Dusche.‘“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false