
© Yuriy Gurzhy
Ukrainisches Kriegstagebuch (167): Wenn die Schule zerschossen und der Direktor getötet wird
Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.
Stand:
6.9.2023
Seit dem 1. September werden meine Social Media-Feeds mit Bildern von ukrainischen Schulhöfen überschwemmt. Und erneut drehen sich meine Gedanken um das Thema Schule. Schule, wo wir so viele Dinge zum ersten Mal erleben. Schule, ein Ort, an dem unser Weltbild direkt und indirekt geformt wird, selbst wenn wir noch zu jung sind, um es zu erkennen.
Ich hätte wohl gelacht, wenn mir vor zwanzig Jahren jemand gesagt hätte, dass mich ein leichtes Nostalgiegefühl überkommen würde, wenn ich heute auf Bildern die Schulgebäude meiner Heimat aus den 1970er Jahren sehe. In Charkiw, Kiew und Odessa unterscheiden sie sich kaum voneinander und erinnern an die Schulbauten aus der DDR.
Eigentlich hatte ich bereits 1995, als ich Charkiw verlassen habe, genug von Plattenbauten und wollte sie nach Möglichkeit nie wieder sehen, aber es ist erstaunlich, wie viele meiner Erinnerungen mit ihnen verknüpft sind. Und ich hätte mir nie vorstellen können, als Erwachsener in diese Schulen zurückzukehren.
Aber genau das ist im Jahr 2020 passiert, als der deutsche Theaterregisseur Georg Genoux mich einlud, mit seinem Team in den Donbass zu fahren, um gemeinsam mit den örtlichen Jugendlichen Musik für sein Projekt zu entwickeln. Obwohl die Orte, die wir in diesen fünf Wochen besucht haben, gar nicht so weit von Charkiw entfernt sind, war ich noch nie dort gewesen. Aber als ich die Schulen in Mykolajiwka oder Popasna hineinging, fühlte es sich an, als würde ich meine eigene Schule betreten.
Täglich neue Fensterscheiben einsetzen
Der Direktor der Schule Nr. 1 in Popasna Viktor Schulik empfing uns wie alte Freunde. Tatsächlich war ich im Team der Einzige, für den es das erste Mal in Popasna war – Georg und sein Kollege Den Humennyi, der Theatermacher aus Kiew, setzten bereits mehrere Projekte dort um.
An unserem letzten Abend in Popasna berichtete Viktor von den Zeiten, als die Stadt schweren Beschuss erlebte. Er erzählte, wie es zu seiner Routine wurde, täglich zusammen mit einem anderen Lehrer neue Glasscheiben in die Fenster einzusetzen.
Die Erzählungen über den Krieg, sowohl von Viktor Schulik als auch von den Schülern und Lehrern der fünf Orte im ukrainischen Donbass, die ich im Jahr 2020 kennengelernt habe, haben mich zutiefst bewegt. Dass diese lächelnden, klugen, talentierten Kids, mit denen wir in der Aula Lieder geschrieben haben, fast die Hälfte ihres Lebens im Krieg verbracht haben, war für mich unvorstellbar, egal wie sehr ich versuchte, es zu begreifen. Und natürlich hätte ich mir selbst in meinen schlimmsten Albträumen nicht einmal vorstellen können, dass nur zwei Jahre später die gesamte Ukraine Ähnliches durchmachen würde.
Meines Wissens haben die jungen Teilnehmer*innen unseres Projekts ihre Heimatstädte im Donbass verlassen. Die Schule in Mykolajiwka wurde bereits zum zweiten Mal von einer russischen Rakete getroffen. Viktor Schulik ist im Oktober 2022 im Kampf gegen die Eindringle bei Bachmut gefallen. Seine Stadt Popasna wurde im Mai 2022 von russischen Truppen eingenommen.
Gestern habe ich mein gesamtes Kleingeld an die jungen Straßenmusiker an der Friedrichsbrücke in Berlin-Mitte gegeben. Sie spielten frühe Beatles-Songs, und ich hätte jeden davon mitsingen können. Die beiden Musiker erinnerten mich an unser Duo der letzten Schuljahre. Rostik und ich waren begeisterte Beatles-Fans und nutzten jedes Schulkonzert, um unsere Interpretationen der Klassiker der Liverpooler Band zu präsentieren. Noch wenige Jahre zuvor wäre das undenkbar gewesen, doch die Zeiten änderten sich, und mit den 1990er Jahren kam ein Hauch von Freiheit in die Luft.
In der Schule begannen wir plötzlich, den ukrainischen Dichter Wassyl Stus zu lesen, der erst 1985 in einem Arbeitslager gestorben war. Meine Mutter brachte Bücher von Solzhenitsyn und Schalamow aus Moskau mit. Auf dem Charkiwer Stadion spielten Undergroundbands aus Leningrad.
Dreißig Jahre später bombardiert russland ukrainische Städte, zerstört Schulen und bringt Ukrainer um. Russland bombardiert ukrainische Städte, zerstört Schulen und bringt Ukrainer um. Ich wiederhole diesen Satz in der Hoffnung, es endlich begreifen zu können. Doch es gelingt mir nicht.
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