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Kultur: Universen erzählen

Porträts aus Stimmen: Seit 15 Jahren produziert Klaus Sander die wohl originellsten Hörbücher der deutschsprachigen Literaturwelt

In den Regalen findet er die CD nicht, deshalb durchsucht Klaus Sander nun die Kartons, die sich kniehoch vor ihm stapeln. Der schmalen Raum, in dem auch noch ein riesiger Schreibtisch steht, wirkt wie ein Lagerraum. Ohnehin hat Sander die Trennung zwischen Wohn- und Arbeitsräumen in seiner Charlottenburger Altbauwohnung aufgehoben. Im Nebenzimmer steht sein Fahrrad, in den Regalen lehnen Texte zur Quantenphysik, Virologie und Bionik neben Sachbüchern über Buntbarsche oder Bienen. Eigentlich haben die Themengebiete nur gemeinsam, dass Sander schon CDs über sie gemacht und in seinem Verlag Supposé veröffentlicht hat. In einem weiteren Raum türmt sich neben dem Rechner isländische Literatur von Hallgrímur Helgason und Halldór Laxness.

„Die Arbeit, der ich nachgehe, ist für mich immer noch ein Hobby und ein Forschungsinteresse“, sagt der 42-Jährige. Er wirkt nachdenklich und zurückhaltend, doch nach und nach schiebt sich eine andere Eigenschaft in den Vordergrund: seine unbedingte Neugierde.

Hörbuchverleger nennen viele den Job, den er seit mittlerweile 15 Jahren macht. Sander selbst kann mit dem Begriff wenig anfangen: „Erstens ist die verlegerische Arbeit das, was ich am wenigsten gerne tue“, sagt er. Es sei allerdings schwierig, einen anderen Verlag für seine Audioproduktionen zu finden. Außerdem gibt ihm das Selbermachen die größtmögliche Freiheit. Etwa bei der Entscheidung, ob aus einer Aufnahme eine, zwei oder vier CDs werden. Zweitens findet Sander, dass der Begriff Hörbuch seine Produktionen nicht zutreffend beschreibt. „Mir geht es um eine eigenständige Auseinandersetzung mit dem akustischen Medium.“ Vor allem um das Erzählen, das bei ihm ohne schriftlich fixierte Grundlage auskommt. Ein Hörbuch dagegen bleibe immer etwas Sekundäres, weil es aus einem geschriebenen Text hervorgehe.

Endlich hat er die CD gefunden. Für die „Saga-Aufnahmen“ ist er seit 2009 sechsmal nach Island gereist. Isländer wie der Schriftsteller Kristof Magnusson erzählen auf insgesamt vier CDs von den Sagas, jenen mythischen Geschichten, die zwischen 930 und 1030 auf Island entstanden. An diesem Mittwoch erscheint eine zweite Box. Aus der Biografie einer Isländerin hat Klaus Sander noch eine weitere CD gemacht: „Leben im Fisch“. Islands Erzähltradition legt viel Wert auf die mündliche Weitergabe von Geschichten. Und passt damit gut zu Klaus Sander.

Denn in Sanders Audioproduktionen entstehen ganz eigene Universen, spontane Momente, in denen Menschen ein besonderes Wissen teilen. Etwa, wenn der detailversessene Autor Peter Kurzeck sich in „Ein Sommer, der bleibt“ an seine Kindheit erinnert. Ohne Manuskript haben sich auch Hertha Müller und Dieter Wellershoff vor Sanders Dat-Recorder an ihre Kindheit erinnert – in einer Sprache, die sich von den gedruckten Texten der Autoren deutlich unterscheidet.

Sander selbst sieht seine Produktionen stilistisch in der Nähe des Dokumentarfilms. Vor jedem Projekt bereitet er eine Art Drehbuch vor. „Die Gespräche laufen ganz unterschiedlich ab, die einen fühlen sich vor meinem Aufnahmegerät wohl, die anderen weniger.“ Für ihn ist jede Produktion ein Experiment. Dass es scheitern könnte, kalkuliert er immer mit ein. Ein paar Aufnahmen hat er nicht veröffentlicht, weil sie ihn nicht überzeugten. „Es ist trotzdem schwer, sich einzugestehen, dass es nicht geklappt hat.“

Nach den Aufnahmen sucht Sander die besten Stellen heraus, ein Cutter übernimmt den Feinschnitt und die technische Überarbeitung. „Je nach CD entstehen im Arbeitsprozess vier bis sieben Versionen.“ Viele seiner insgesamt 80 Veröffentlichungen sind in den vergangenen Jahren ausgezeichnet worden, unter anderem als, nun ja, Hörbuch des Jahres.

Klaus Sanders erste CD bestand aus Aufnahmen des 1991 verstorbenen Philosophen Vilém Flusser – ohne den es den Verlag vermutlich gar nicht geben würde. Sander hatte Flusser während seines Studiums der Literatur. und Medienwissenschaft als mitreißenden Redner kennengelernt. „Ich wollte nicht, dass diese Fähigkeit des Vortragens und Gedankenartikulierens nach seinem Tod in Vergessenheit gerät.“ 1996 brachte Sander diese erste CD heraus. Flusser gab dem Verlag auch den Namen: Viele seiner Vorträge leitete er mit der Formulierung „supposé que“ ein, also „angenommen, dass“.

Am liebsten macht Klaus Sander aber neue Aufnahmen. Er geht noch einmal in sein Lager hinüber. „Mein Umzug von Köln nach Berlin 2007 hatte private Gründe, keine strategischen“, sagt er, während er kramt. „Ich muss das, was ich mache, von überall aus tun können.“

Schließlich zieht Sander „Superorganismus Honigbiene“ aus einer Faltschachtel. Auf dieser CD erzählt der Bienenforscher Jürgen Tautz von der Struktur des Bienenstaates, von Wächter- und Putzbienen und davon, dass die Insekten nur die „Seniorenbienen“ in den Außendienst jenseits des Bienenstocks schicken, weil diese intelligenter sind als ihre jüngeren Kollegen. Der Bienenforscher redet frei, seine Stimme ist ruhig und trotzdem leidenschaftlich. Das ist es, was sich Sander wünscht: „Wenn die Begeisterung überspringt, dann kann es nicht schlecht und missverständlich werden.“ Für den Verleger sind alle CDs auch Porträts der Erzählenden, ganz gleich, ob diese über ihre Kindheit sprechen oder über ihr wissenschaftliches Arbeitsfeld. Die Stimme und die Art des Erzählens machen den Menschen erkennbar. Auch ohne Bild.

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