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Faszinierender Roman einer Emanzipation.

© Hanser

Jugendbuch: Verbotene Liebe

Julya Rabinowich über die Emanzipation einer Außenseiterin aus gutem Haus.

Mit der alten Stoffmütze, die Alice auf einem Flohmarkt aus einer Kiste zieht, kommen die Erinnerungen. Die Mütze hatte ihr einst ihr Ex-Freund Niko geschenkt. Während sie an das denkt, was sie hinter sich glaubte, fällt ihr die Mütze runter. Da steht plötzlich Niko vor ihr und hebt sie auf. Vor Schreck fällt ihr der Spiegel aus der Hand, den sie auf dem Flohmarkt erstanden hat. Mit Niko hatte alles begonnen, und Niko war es, der ihr bisheriges Leben in Scherben zerspringen ließ. Das ist die Ausgangslage für Julya Rabinowichs faszinierenden Roman „Hinter Glas“. Retrospektiv lässt sie Alice ihre Geschichte erzählen. Dabei fügt sie Kapitel für Kapitel, Scherbe für Scherbe ihren Spiegel zusammen, bis das Bild am Ende stimmt.

„Folge dem weißen Kaninchen“, heißt die erste Spiegelscherbe, in der Alice sich erinnert, wie sie den Neuen kennenlernte. Alice lebte damals in einem goldenen Käfig, einer prächtigen Villa mit einem riesigen Garten und einer akkurat geschnittenen Hecke. Das Verhältnis zu den Eltern war schwierig: die Mutter, eine Ex-Schauspielerin, bewachte sie wie eine Glucke, der Vater war wegen seiner „Geschäfte“ nie da und den tyrannischen Großvater in der Nachbarvilla umgab ein dunkles Geheimnis, das wie ein Fluch auf der Familie lastete.

In der Schule hatte sie es nicht einfach, sie wurde gemobbt, vor allem von Rosa und ihrer Entourage, die den Ton angaben – Alice befand sich in einer absoluten Außenseiterposition. Und Niko, der unangepasste, coole Typ, der als Neuer in der Klasse zum ersten Mal mit ihr zu spät zum Unterricht kam, hatte auch das Zeug zum Außenseiter, der die anderen aber irgendwie faszinierte. Alice als behütete Tochter war so ziemlich das Gegenteil von Niko, der mit seinem Vater schon viel um die Welt gereist ist.

Julya Rabinowich baut in den Erzählfluss eine kommentierende Stimme ein. Optisch wird sie durch eine andere Schrift hervorgehoben. Die Stimme deutet immer wieder Alices Handlungen. Allein durch die Anwesenheit dieser rätselhaften Erläuterungen steigert Rabinowich die Spannung. „Ich kenne sie so gut, wie sie sich niemals kennen wird. Aber sie weiß nichts von mir. Und ich werde weiter warten, bis wir vielleicht eines Tages wieder zueinanderfinden. Ich habe ja Zeit“, bemerkt die geheimnisvolle Stimme.

Gewalt verändert alles

Es war kein Zufall, dass Alice, die ständig unter den Attacken von Rosa in ihrer Klasse zu leiden hatte, in dem Außenseiter Niko einen Verbündeten fand. Und er beunruhigte sie irgendwie, dieser Niko, der einfach seinen Weg ging, ohne Rücksicht auf andere. „Eine Liebesgeschichte beginnt immer schon, bevor sie eigentlich begonnen hat“, sagt die geheimnisvolle Kommentarstimme. Und so kam es.

An der Klassenfahrt nahm Niko nicht teil – so schien es. Das beunruhigte Alice wider Willen. Doch es stellte sich heraus, dass er mit dem Motorrad zum Zeltplatz gefahren war und nicht mit dem stickigen Bus wie die anderen. Alice imponierte, dass er Rosa und deren Clique ihretwegen stehen ließ: „Sorry, aber ich habe jetzt echt keine Zeit.“ Das ging Alice runter wie Öl.

Rabinowich fügt alles zusammen, allmählich entsteht das Bild einer wilden Liebesgeschichte, die Alice von ihrem Zuhause entfremdet. Sie zieht mit Niko um die Häuser, verlässt das behütete Elternhaus und genießt ihre Freiheit, die sie so noch nicht kannte. Dann kommt Gewalt ins Spiel. Niko lässt sich immer mehr gehen und schlägt sie im Streit. Allmählich wendet sich das Blatt.

Alice hinterfragt ihren Lebenswandel, ist bereit, Verantwortung zu übernehmen. Vor allem, nachdem ihr jemand ihr Mobiltelefon gestohlen hat und private Fotos in alle Welt schickt. Es kommt zu einem Showdown auf einem S-Bahnhof mit einem üblen Zwischenfall, der Alice endgültig dazu zwingt, Position zu beziehen, um ihren eigenen Weg zu gehen – gegen alle Widerstände.

Rabinowich erzählt diese Geschichte einer Wandlung in einer einfühlsamen poetischen Sprache. Manchmal möchte man Alice schütteln, da sie offenbar nicht merkt, wie sie in Schwierigkeiten gerät, aber sie findet aus sich selbst heraus die Kraft, ihren Weg zu gehen. Das macht Mut und ist spannend – bis zur letzten Seite.

Julya Rabinowich: Hinter Glas Roman. Carl Hanser Verlag, München 2019. 192 Seiten. 16 €. Ab 14 Jahren.

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