
© imago/ZUMA Press/Nancy Kaszerman
„Die nächste Stufe der Evolution“: Wenn menschliche und künstliche Intelligenz verschmelzen
Im Jahr 2045 werden Mensch und Maschine eins sein, prophezeit der amerikanische KI-Forscher Ray Kurzweil in seinem neuen Buch. Für ihn ist es ein Grund zur Hoffnung.
Stand:
Nur noch wenige Mausklicks trennen uns vom Paradies. Künstliche Intelligenz (KI) wird bis Ende des Jahrzehnts ermöglichen, mit Robotern, 3D-Druckern und Vertikalfarmen alle Güter und Dienstleistungen zu einem Bruchteil der heutigen Kosten zu produzieren und zu konsumieren.
Der Überfluss wird Kriege und Konflikte überflüssig machen. Wölfe und Lämmer werden beieinander ruhen. Und sogar das ewige Leben rückt Schritt für Schritt näher.
Denn erst vervielfachen sich durch KI die Möglichkeiten medizinischer Diagnostik und Therapie. Dann beseitigen injizierte Nanoroboter in unseren Körpern die biologischen Defizite unseres Organismus.
Schließlich erschaffen wir perfekte digitale Kopien unserer Persönlichkeiten, mit denen wir unbegrenzt schalten und walten können. Und wir können Verstorbene als Replikanten auferstehen lassen.
Gewagte, aber durchgerechnete Voraussagen
Das alles und noch viel mehr verheißt uns Ray Kurzweil, 76, KI-Pionier, Erfinder, Chefingenieur der Transhumanisten und Techno-Optimisten, Vordenker für Google und Bestsellergarant. Er macht seit 40 Jahren äußerst gewagte, aber empirisch fundierte und durchgerechnete Voraussagen, so konkret, dass er sich daran messen lässt. Das unterscheidet ihn von Science-Fiction-Autoren.
Bis 2030 werden, so Kurzweil, KI-Anwendungen die Fähigkeiten von Top-Experten in fast allen Bereichen übertreffen, in Medizin, Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Technologie, Recht, Sport und Kunst. Dadurch könnten alle Weltprobleme wie Armut, Unwissenheit, Krankheit, Energieknappheit, Unsicherheit, Artensterben oder Klimawandel gelöst werden.
KI schaffe das, weil sie sich ständig selbst optimiert, weil sie aus Erfolgen und Misserfolgen lernt. Heutige KI-Anwendungen beruhen auf neuronalen Netzen – gestaltet nach dem Vorbild menschlicher Gehirne. Schlagartig öffentlich bekannt wurde das Potenzial von KI durch dialogfähige Sprachmodelle wie ChatGPT. Dies, so Kurzweil, sei nur ein Vorschein dessen, was nun in rascher Folge die Verhältnisse umwälzt. KI werde sich sogar in „Turing-Tests“, also in anonymen Leistungsvergleichen mit Menschen zügeln müssen, um nicht sofort als Maschine erkannt zu werden. Sie werde also Denkpausen vortäuschen oder Fehlerchen einstreuen.
KI soll alles durchdringen
Ab 2030 beginnen menschliche und technische Intelligenz, wie er annimmt, zu einer heute noch gar nicht verstehbaren Superintelligenz zu verschmelzen: Geräte in Nanogröße verbinden dauerhaft die Neuronen eines Menschen im Gehirn mit seinen duplizierten Neuronen in einer Cloud.
Dadurch könne dieser Hybrid millionenfach schneller und damit weiter und tiefer denken. Um 2045 werden Gehirn und Computer laut Kurzweil dann eins, sie mutieren also zu einem Singular. Dann sei die „Singularität“ erreicht – seit Langem der Fixpunkt seines Denkens.
Hinter dieser Umwälzung, so Kurzweil, walte das „Gesetz vom steigenden Ertragszuwachs“ der Informationstechnologie. Die bilde einen sich selbst verstärkenden Regelkreis: Jeder Fortschritt der Computerleistungen ermögliche über Rückkopplung immer höhere, weitere und schnellere Computerleistungen. Innovation stimuliere Innovation, KI treibe die KI voran, Großrechner erzeugen Superrechner, das Training mit großen Datensätzen erlaube die Erkennung von Mustern in noch größeren Datensätzen – ohne Grenze, ohne Decke, ohne Ende.
Da KI alle Forschungsbereiche durchdringe, würden auch Medizin-, Energie- oder Agrartechnologien zu Informationstechnologien und damit deren Gesetz unterworfen. Derzeit stünden wir bereits am Fuße des steilen Anstiegs der Exponentialkurve, die den Ertragszuwachs abbildet. Aber noch nehmen wir die aktuellen Veränderungen fälschlich als linearen Anstieg wahr, doch bald wird das exponentielle Wachstum nicht mehr zu übersehen sein.
Wer dies alles für abstrus hält, der erinnere sich, wie rasch wir uns daran gewöhnt haben, mit jedem Griff zum Smartphone für ein paar Cent Computerleistungen in Anspruch zu nehmen, die immens sind im Vergleich zu früheren Jahrzehnten.
Risiken werden kleingemacht
Angesichts dieser gewaltigen Chancen verzwergen bei Kurzweil die Risiken, wie Arbeitsplatzverlust, Wettrüsten, unkontrollierte Selbstreplikation oder krimineller Missbrauch. Folgerichtig könnten alle Risiken durch smarte Informationstechnologien minimiert werden. Nur KI könne vor den Gefahren durch KI retten.
Allerdings zeigt Kurzweil nachdrücklich: Die Verschmelzung von Mensch und Maschine verschärft uralte, vertrackte philosophische Probleme, etwa wie Identität und Bewusstsein zu begreifen sind oder wie das Verhältnis von Leib, Geist und Seele neu bestimmt werden muss angesichts von „Avataren“, „Replikanten“ und „Androiden“.
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Und man ist bei der Lektüre bisweilen überwältigt von den unzähligen rechtlichen und ethischen Folgeproblemen, etwa davon, wie ein Recht auf komplettes Sterben garantiert werden kann.
Kurzweils Weltsicht ist durch und durch technologisch. Da bleibt wenig Platz für Akteure. Unternehmen, Staaten oder Forscher sind nur Komparsen in dem großen Drama. Sie vollziehen den technologischen Fortschritt, aber sie treffen keine Entscheidungen. Eigenartigerweise wird in einem Buch, das im deutschen Titel auf „Evolution“ verweist, dem evolutionären Grundmechanismus von Reproduktion, Variation und Selektion keinerlei Bedeutung zugeschrieben.
An der Grenze zur Naivität, vor allem politisch
Kurzweil denkt nicht im Denkmuster der Evolutionstheorie. Bei ihm folgt Entwicklung einem übermenschlichen Plan, den es gegen alle Widersacher durchzusetzen gilt. Geschichte ist bei ihm determiniert vom informationstechnologischen Gesetz und vollzieht sich ohne Kreuzungen, Gabelungen, Sackgassen oder Umwege.
Das grenzt an Naivität, vor allem in politischer Hinsicht. Denn wie das letzte Jahrzehnt mit sozialen Medien wieder deutlich gezeigt hat: Jeder Überfluss schafft neue Knappheit. Um knappe Ressourcen wird gestritten, und Streit kostet Zeit.
Dennoch: Gerade im sicherheitsorientierten Deutschland ist eine solche Sicht, die nur Chancen sieht, ein notwendiges Korrektiv. Ängste und Sorgen treiben hierzulande eine Regulierung voran, bei der KI im Klein-Klein von Datenschutzgrundverordnung und Artificial Intelligence Act verloren zu gehen droht.
Kurzweil wägt nicht ab, er markiert den extremen Pol auf der Plusseite. Aber ohne den weiß man nicht, wo die Mitte ist und findet keine Balance.
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