
© Tatiana Trouvé, by SIAE 2025/Palazzo Grassi, Pinault Collection
Vom seltsamen Eigenleben der Dinge: Die Pinault Collection feiert die Kunst doppelt in Venedig
Im Palazzo Grassi friert Tatiana Trouvé Alltagsobjekte in Bronze ein, während Thomas Schütte in der Punta della Dogana mit einer weiblichen Heldin auftrumpft.
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„Bodenlos“ beginnt es gleich hinter dem Eingang des Palazzo Grassi. Den Marmorboden im Hof des venezianischen Palastes hat Tatiana Trouvé komplett mit Asphalt ausgießen lassen. Dazwischen schillern Kanaldeckel, deren Aufschriften verraten: Die Metallabdeckungen finden sich sonst in Rom, Paris, London, New York oder Chicago.
Auch eine Luke aus Venedig ist dabei. Immerhin geht es hier um die Wasserversorgung, um unterirdische Leitungen und die Kanalisation. Und wo denkt man mehr an Wasserstraßen als in Venedig?
Mit ihrer Arbeit „Hors-sol“, so heißt das Werk auf Französisch, setzt die Künstlerin der Lagunenstadt ein verblüffendes Denkmal. Von oben betrachtet wirkt der Straßenbelag wie ein pittoreskes Patchwork-Bild mit blinkenden Rundungen aus Bronze, Silber und Gold.

© Tatiana Trouvé, by SIAE 2025/Palazzo Grassi, Pinault Collection
Für die Künstlerin ist es vielleicht auch ein Sinnbild dafür, wie das Meer in Venedig uns verbindet. „Ich hatte das Bild einer alten Karte mit den längsten Flüssen der Welt im Kopf, die in einem Punkt zusammenfließen“, sagt sie.
Karten von Gestirnen oder Geografien sind oft Inspirationsquellen für die 56-jährige Bildhauerin aus Paris, die in Italien geboren wurde, aber im Senegal aufwuchs. Aber auch Begegnungen mit Menschen, Geflüchteten oder Nachbarn, politische Unruhen vor ihrer Haustür und immer wieder Bücher verarbeitet sie in ihren Bronzestillleben.
Als Abgüsse stapeln sich Bücher über Biodiversität und Klimakrise, Italo Calvinos Roman „Die unsichtbaren Städte“, in dem Marco Polo im 13. Jahrhundert dem Tartaren-Herrscher Kublai Khan von seinen Reisen in die wundersamsten Städte berichtet, oder ein Buch über Hypnose.
Entschlüsseln lassen sich Trouvés oft postapokalyptisch wirkende Science-Fiction-Szenarien schwer. Da stehen Stühle mit Fundstücken als „Wächter“ herum, finden sich Putzeimer, Pinsel und immer wieder jede Menge Bücher. Menschliche Spuren wie ein Schuh oder ein Kleidungsstück wirken wie nach einer Katastrophe zurückgelassen. Jedes Detail ist in Bronze gegossen. Hier lebt nichts mehr, sondern ist festgefroren. Als Memento Mori einer verlassenen oder verlöschenden Zivilisation.
Jeder der 26 Räume in dem Museum ist rekonstruiert und neu konfiguriert: Zeit, Raum und Erinnerung konserviert die Künstlerin darin. Vor Böden, Wände und viele Decken sind weiße Rigipsplatten gesetzt, welche die Raumfluchten in ein surreales Traumhaus verwandeln. Die prächtigen Deckenfresken sind verborgen, die Marmorböden verdeckt.
Dafür hat die Künstlerin alles in einen unscharfen nebeligen Grau-Braun-Beige-Ton getaucht – selbst ihre neuen großformatigen abstrakten Bilder, als ob die Realität nicht wirklich greifbar wäre. „Ein Hauptmechanismus der Fiktion ist eine Verdoppelung der Dinge“, erklärte sie einmal.

© Thomas Schütte, VG Bild-Kunst, Bonn 2025/Foto: Matteo De Fina, Palazzo Grassi - Pinault Collection
Sogar ihr eigenes nachgebautes Atelier ist minutiös organisiert. In einem Raum hat Trouvé hundertfach jedes kleine Objekt aufgereiht, das sie in der Ausstellung verwendet hat, Handtaschen, Koffer, Schlüssel, Drahtrollen, Scheren, Bücher, getrocknete Pflanzen: Alles liegt nach Größen sortiert und starr in Bronze gegossen auf Kartons oder hängt an der Wand.
„Mutter Erde“ grüßt am Eingang
Wer danach ein paar Schritte weiter durch Venedig läuft zur alten Zollstation Punta della Dogana, wird draußen von einer mächtigen Skulptur überrascht. Thomas Schüttes neue Skulptur „Mutter Erde“ grüßt am Eingang zu seiner Werkschau „Genealogies“. Die Bronzefigur ist fast vier Meter groß, trägt ein bauschiges Gewand und eine altertümliche Haube. Sie ist ein Glücksbringer.
Als kleine Keramikfigur stand sie bis vor kurzem noch im New Yorker MoMA in der One-Man-Show zum 70. Geburtstag des Düsseldorfer Künstlers. Vorbild war eine winzige Nippesfigur, die Schütte zufällig in einem Dreikönigskuchen entdeckte. Das runde Hefegebäck wird im katholischen Rheinland am 6. Januar verkauft. Wer das Figürchen in seinem Stück findet, bekommt eine Krone aufgesetzt.

© Thomas Schütte,VG Bild-Kunst, Bonn 2025, by SIAE 2024/Palazzo Grassi, Foto: Fulvio Orsenigo
Drinnen zeigt der weltberühmte Bildhauer dann seine Antihelden – vom strauchelnden „Mann im Wind“ über „Große Geister“ bis hin zum müden „Vater Staat“ und den „Effizienz-Männern“, die er 2005 nach einem Skandal um Hedgefonds-Manager so nannte. Mit Grimassen und dünnen Mäntelchen erinnert das Trio heute auch an Politiker wie Donald Trump, Wladimir Putin und Kim Jong-un.
Sympathisch wirken dagegen Schüttes aquarellierte Musikerporträts „Blues Men“ und „Blues Women“ sowie seine mehr als 100 Zeichnungen. Darunter sind erstmals auch einige „Deprinotes“ ausgestellt. Der Künstler leidet seit Jahrzehnten immer wieder unter Depressionen. Die Zeichnungen entstanden während eines Aufenthalts in einer psychiatrischen Einrichtung.
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