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Zeichnungen auf dem Kunstmarkt: Von der Hand in den Raum

Direkt, anarchisch, bezahlbar: Die Zeichnung hat Hochsaison in Museen und Galerien

Der kleine Trickfilm von Christine Gensheimer hat es in sich: „Walk the Line“ (2015) zeichnet die Zeichnerin beim Zeichnen. Und das Monster, das sie auf dem Papier vor sich entstehen lässt, sitzt plötzlich am Tisch, während das Blatt wieder schneeweiß ist. „Wer zeichnet hier wen?“ Diese Frage wirft eine Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg mit insgesamt 37 Künstlern auf, die sich denselben Titel wie Gensheimers Animation gegeben hat: „Walk the Line“. Es geht um „Neue Wege der Zeichnung“ mit einer enormen Bandbreite. Die Sprühfarben-Motive von Il-Jin Atem Choi zählen hier ebenso zum Zeichnerischen wie Simon Schuberts architektonische Papierfaltungen oder jene schlaffen Konstruktionen, die Mario Bierende per Skalpell aus schwarzen Blättern geschnitten hat. Selbst die hängenden Fäden von Katharina Hinsberg sind Teil der Schau, weil die Installation „Spatien“ (2011/2015) ihr Volumen aus einem Dickicht von Linien entwickelt.

Ein Experiment in einem zunehmend erstarrendem Kunstmarkt

Sie ist der Angelpunkt eines Medium, das – wieder einmal – mit Macht in Institutionen und Galerien drängt. Im Kölner Diözesanmuseum Kolumba hat sich bis Ende August die Künstlerin Monika Bartholomé mit ihrem mobilen „Museum für Zeichnung“ eingenistet, in der Wiener Albertina zeigt „Drawing Now: 2015“ ebenfalls aktuelle Tendenzen und im Neuen Museum in Nürnberg wird am 16. Juli der Faber-Castell-Preis für Zeichnung vergeben. Das bedeutet nicht unbedingt Kapitulation vor den absurd hohen Preisen, die gerade selbst junge Künstler auf Auktionen erzielen und ihre Werke aus dem Ankaufsetats der meisten europäischen Museen katapultieren. Natürlich besinnt man sich hier auf eine Alternative, die traditionell weniger kostet; obwohl oft genauso viel Arbeit in jenem Genre steckt, das streng oder verspielt, formal oder versponnen daherkommen kann. Fast noch mehr aber wiegt sein offener, experimenteller Charakter in einem zunehmend erstarrenden Kunstmarkt. Zeichnen, das ist leise Anarchie mit einer Portion Unkalkulierbarkeit. Ein Vorgang, der staunen lässt, denn die Zeichnung hält den Prozess ihrer eigenen Entstehung fest. Das klingt paradox, ermöglicht es dem Betrachter jedoch immer wieder, tief in das Denken des Urhebers einzutauchen. In der Zeichnung stecke immer auch ein radikales, ungebändigtes Element, stellt der in Berlin lebende Künstler Heiner Franzen fest. Und dass die Studenten an der Kunstakademie Weißensee, wo Franzen als Professor lehrt, nicht genug von dem Medium bekämen. Vielleicht, weil der Dialog zwischen Hand und Material unmittelbar ist. Oder man konzentriert arbeiten muss, da Korrekturen kaum möglich sind. Und sicher, weil man individuelle Spuren hinterlässt, selbst mit weichem Bleistift auf Papier.

Bilder, zu einem Drittel weiß – und das aus gutem Grund

Was aus solch reduziertem Material entstehen kann, führt Birgit Hölmer derzeit in der Galerie Poll vor. „Spiegelungen“ nennt die Berliner Künstlerin ihre großen, im Freien entstehenden Blätter, die sich eher dem Unterholz als dem sublimen Wald widmen (2150–2450 €). Es ist ein subjektiver Blick auf Landschaft, den Hölmer konsequent durchhält. Dass ihre Papierbahnen im unteren Drittel stets weiß bleiben, hat seinen Grund: Sie wisse ja nicht, wie es unter der Erde aussehe. Die Galerie Poll präsentiert jene faszinierenden Ansichten zusammen mit denen von Martina Altschäfer, die Natur in wunderbare, ins Abstrakte gleitende Miniaturen zwängt. Mit Positionen von Matthias Beckmann oder Joachim Schmettau. „Die Zeichnung geht weiter“ heißt es auch hier. Ein Titel, der sich zweideutig lesen lässt. Galeristin Nana Poll knüpft damit an eine Tradition ihrer Mutter Eva Poll, die schon früher einen jährlichen Zeichnungssalon initiierte. Er zeigt nicht allein von der Galerie vertretene Künstler, sondern lädt Gäste ein wie den Dresdner Autodidakten Matthias Sturm oder den 1984 in Irkutsk geborenen Andrey Klassen mit seinen großen, von fantastisch verdrehten Momenten erzählenden Tuschbildern (5870–6160 €). Ein echter Kontrast zu Beckmanns ebenfalls schwarzweißen Stadtansichten in Postkartengröße, die sich auf Silhouetten von Menschen, Häusern oder Skulpturen beschränken. Ein Gegensatz auch zu jenen mäandernden Motiven (2200– 2800 €), in denen sich Bildhauer Schmettau von einem Detail zu immer neuen Arabesken anregen lässt. Was alle eint? „Einige von ihnen verstehen sich ausdrücklich als Zeichner, für andere ist die Zeichnung bloß eine ihrer Ausdrucksformen“, sagt Nana Poll.

Kürschner quittiert die profanen Botschaften von Rechnungen mit künstlerischer Verfremdung

Immer aber geht „die Zeichnung weiter“, als man von der uralten künstlerischen Technik annehmen könnte. Beckmanns analoger Zeichenblock liegt neben seinem PC, an dem auch er seine Figuren für den Zeichentrickfilm „Double World“ (20 Exemplare, je 1200 €) animiert. Sascha Kürschner scheint in einem komplexen Abklatschverfahren Kassenzettel und Quittungen aus aller Welt auf Papier übertragen zu haben – dabei sind das feinste Blei- und Farbstiftmotive, die die profanen Botschaften ihrer Vorlagen ironisch verfremden. Von Joachim Grommek hängt eine frühe Serie aus den achtziger Jahren, die die Linie an ihren Ursprung zurückführt. Auf Leinwand allerdings. So formuliert Grommek einen Anspruch für die Zeichnung, die nicht hoch genug bewertet werden kann.

„Walk the Line“, Kunstmuseum Wolfsburg, Hollerplatz 1, Wolfsburg; bis 16.8. „Die Zeichnung geht weiter – Positionen zeitgenössischer Zeichenkunst“, Galerie Poll, Anna-Louisa-Karsch-Str. 9; bis 15.7.

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