
© Goni Riskin/Rowohlt Berlin
Neue Erzählungen von Nicole Krauss: Von vornehmer Kühle
In dem Band „Ein Mann sein“ versammelt die US-amerikanischen Schriftstellerin Nicole Krauss zehn großartige Erzählungen.
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Der Titel „Ein Mann sein“ erregt Aufmerksamkeit, zumal wenn er auf dem Buch einer Autorin prangt und auf dem Cover zwei sich küssende Frauen zu sehen sind. Hat man es beim neuen Werk von Nicole Krauss also mit einer weiteren feministischen Verabschiedung des Prinzips Mann, einer weiteren Vermessung „toxischer“ Männlichkeit zu tun - oder gar mit einem Gegenruf? Dies oder jenes zu erwarten, hieße die Lektüre der zehn fabelhaften Geschichten mit einem Missverständnis beginnen.
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Aber auch wenn Krauss in ihnen alles Plakative, Aufdringliche vermeidet und von ihren Figuren keine Gender-Debatten geführt werden – untergründig geht es doch auch um Geschlechtsidentitäten. Was ihr „Sein“ betrifft, sind die meisten Erzählerfiguren in diesem Band weiblich. In allen zehn Geschichten richtet sich der Blick aber auf faszinierende, eigenwillige, bisweilen auch befremdliche Männer.
In der ersten Geschichte „Die Schweiz“ erinnert sich die Ich-Erzählerin an ihre Internatszeit in Genf. Sie lauschte damals gebannt den Berichten der Iranerin Soraya, mit der sie das Zimmer teilte und die bereits viele Affären hatte, unter anderem mit einem reichen holländischen Geschäftsmann, der bedrohlich dominant auftrat und den Sex-Appeal der Macht verkörperte. Dreißig Jahre später versucht die Erzählerin die „leuchtende Flamme“ in den Augen ihrer Freundin zu verstehen: War es Leichtsinn, Angst, „Perversität“ oder ein „unbeugsamer Wille“? Als Soraya damals eines Tages verschwand, kam ihr Vater angereist, ein ehemaliger königlicher Ingenieur des Schahs, „das Gesicht knotig vor Ärger“ – solche Formulierungen zeigen ganz nebenbei die Klasse von Krauss. Sorayas Unabhängigkeit erwies sich mit dem knotigen Vatergesichts jedenfalls schlagartig als Illusion.
Erfolgreich mit "Geschichten der Liebe"
Die 1974 geborene Nicole Krauss war sehr erfolgreich mit Romanen wie „Die Geschichte der Liebe“ und „Waldes Dunkel“. Sie gehört zum literarischen Jet Set New Yorks; mit dem Schriftsteller Jonathan Safran Foer, mit dem sie zehn Jahre verheiratet war, hat sie zwei Kinder. Die Erwartungen an ihren ersten Erzählungenband waren ebenso hoch wie der Vorschuss, den sie für das Buch von ihrem amerikanischen Verlag HarperCollins bekommen hat. Die Geschichten sind tatsächlich gut, manche sehr gut, am besten vielleicht „Der Ehemann“, das längste Stück des Bandes, in dem Krauss das jüdische Thema der wiedergefundenen Menschen aufgreift.

© Rowohlt Verlag
Verstreute Überlebende des Holocaust wurden von Organisationen wie dem Roten Kreuz oft erst nach vielen Jahren wieder mit ihren Angehörigen zusammengeführt. So meldet sich in dieser Geschichte an der Haustür einer alten, leicht verwirrten Witwe in Tel Aviv plötzlich ein „Sozialdienst“ und präsentiert den einst verlorenen „Ehemann“. Er kommt aus Ungarn; ein charmanter Herr mit Hut, der zunächst etwas verloren in der Wohnung steht, in den Wochen darauf aber mit seinem mitteleuropäischem Charme die ganze Familie bezaubert, bis auf Tamar, der misstrauischen, kurz darauf aus New York anreisenden Tochter der alten Frau, die einen Betrug vermutet. Wohl mit Recht, denn die Daten passen nicht zusammen. Aber muss man eine so glückliche Wendung der Dinge denn zugunsten des Konzepts der Wahrheit in Frage stellen?
Tiefenschicht und Verwicklungen
Es ist eine psychologisch nuancierte Familienkomödie mit historischer Tiefenschicht und zeitgemäßen Verwicklungen. Tamars eigene Ehe ist an der Disbalance der Alltagspflichten gescheitert, ihr schwuler Bruder Shlomi kann sich mit seinem Mann den Kinderwunsch dank einer indischen Leihmutter erfüllen. In dieser Form mag die so oft verabschiedete und verspottete Kleinfamilie literarisch noch reüssieren. Hetero-Beziehungen werden dagegen regelmäßig als scheiternde beschrieben, Frauen verlieben sich eher in ihre Unabhängigkeit. Auch wenn die Sehnsucht bleibt.
Mehrere Erzählungen haben einen Zug ins Phantastische, wie die kafkaeske Geschichte einer Frau, die von ihrem Vater ein Apartment in Tel Aviv erbt. Zum Inventar gehört auch ein merkwürdiger Fremder, der zum Schlafen in die Wohnung kommt und der Erbin ungefragt Omelettes brät und sich um ihre Wäsche kümmert. Die bereits 2002 entstandene Geschichte „Zukünftige Notstände“ greift das Gefühl der Bedrohung nach dem 11. September auf und scheint zugleich die Stimmung der Corona-Pandemie vorwegzunehmen. Als Schutz gegen eine diffuse Gefahr werden in New York an alle Bürger Gasmasken verteilt, von denen sich manche später gar nicht mehr trennen wollen. Vielleicht hatten sie sich „einfach daran gewöhnt, die Maske aufzusetzen, ja sie sogar liebgewonnen und sträubten sich jetzt, sie abzulegen und wieder mit nacktem Gesicht herumzulaufen, allem und jedem ausgesetzt.“
Deutsch-jüdische Liebesgeschichte
Die Titelstory „Ein Mann sein" erzählt eine deutsch-jüdische Liebesgeschichte. Der männliche Partner wird nur als der „deutsche Boxer“ bezeichnet, was brutal klingt, obwohl er in Wahrheit ein sensibler Riese ist. Das Paar geht am Berliner Schlachtensee spazieren und diskutiert über die heikle Frage, ob „der deutsche Boxer“ wohl, versetzt ins Jahr 1941, als SS-Mann an der Tür der Erzählerin erschienen wäre. Die SS hätte angesichts seines Gardemaßes sicher um ihn geworben, gibt er zu, und er wäre wegen seines Verlangens nach Ruhm und Ehre empfänglich dafür gewesen.
[Nicole Krauss: Ein Mann sein. Storys. Aus dem Englischen von Grete Osterwald. Rowohlt Verlag, Hamburg 2022 256 S., 24 €.]
Immer wieder geht es um jüdische Identität. 3000 Jahre religiöse Tradition können als Last empfunden werden. Das zeigt die Erzählung „Sussja auf dem Dach“. Ein älterer Geschichtsprofessor übersteht eine Darmkrebsoperation und begreift sein Überleben fortan als Auftrag: Sein einziges Enkelkind will er aus dem Bann der jüdischen Geschichte befreien, die sich für ihn verdichtet in der Erinnerung daran, wie sein eigener Vater täglich in frommer Herrgottsfrühe die Gebetsriemen band. In spontanem Aufbegehren verschwindet der Professor mit dem Baby von der Beschneidungsfeier, während im Nebenraum schon das Messer vorbereitet wird.
Krauss schreibt eine intelligente Prosa, die in den Geschichten konzentriert zur Geltung kommt, während ihre Romane bisweilen an Weitschweifigkeit leiden. Der Erzählton ist reflektiert, von einer vornehmen Kühle; er liefert präzise Details, keine Stimmungswerte. Konventionelle Raffinesse kann man diesen gut gemachten und von Grete Osterwald geschmeidig übersetzten Geschichten bescheinigen. Am Ende besteht der Reiz guter Lektüren aber darin, dass wir alle Gemachtheit vergessen und den Eindruck bekommen, von „wirklichen“ Menschen zu lesen. Das gelingt Nicole Krauss in diesen Geschichten ein ums andere Mal.
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