
© Alexander Griesser
„Was Marielle weiß“ im Kino: Ein Fall von Too Much Information
Was tun, wenn das eigene Kind plötzlich Gedanken lesen kann? Mit seiner Familienkomödie „Was Marielle weiß“ empfiehlt sich Frédéric Hambalek als interessante neue Stimme im deutschen Kino.
Stand:
Das stimmt doch gar nicht. Bestimmter Tonfall, aufmüpfiger Blick. Die zehnjährige Marielle konfrontiert ihre Eltern beim Abendessen in der Designerküche. Geheimnisse sind das Bindemittel menschlicher Beziehungen, manchmal (oft?) will man auch gar nicht so genau wissen, was der andere wirklich denkt. Der Filter zwischen Gedachtem und Gesagtem bewahrt uns nicht selten vor peinlicher Selbstentblößung. Das gilt insbesondere für Eltern: Die persönlichen Sorgen und manchmal auch unangemessenen (und nicht immer jugendfreien) Gedanken möchte man den Kindern lieber ersparen.
Marielle (Laeni Geiseler) hat sich ihre Superkräfte nicht ausgesucht, sie wurde bloß von ihrer besten Freundin geschlagen. Jetzt sitzt sie am Esstisch und weiß, was Mutter Julia (Julia Jentsch) und Vater Tobias (Felix Kramer) am Tag getan und gesagt haben. Das stimmt nicht mit dem überein, was sich die Eltern gegenseitig von ihrem Arbeitstag berichten.
Julia zum Beispiel hat mit ihrem Arbeitskollegen Max (Mehmet Ateşçi) bei einer Zigarettenpause eine sehr explizite sexuelle Fantasie geteilt. Aber solange es nur Worte und Gedanken bleiben, ist das noch kein Betrug. Oder doch? Dieses Wissen ist vorerst noch ein Geheimnis zwischen Mutter und Tochter. Tobias reagiert trotzdem schockiert: „Du rauchst wieder?“

© Alexander Griesser
Der Papa wiederum hat im Verlag eine Demütigung erfahren. Er war mit dem Cover-Entwurf für das neue Buch der hauseigenen Bestsellerautorin zufrieden, seine Selbstzufriedenheit lässt er die Kollegen spüren. Nur Sören (Moritz Treuenfels) ist nicht so überzeugt: „Ein Vogel ohne Kopf, ist das nicht ein bisschen Pseudo-Magritte?“
Zögerlich teilen daraufhin auch die anderen im Meeting ihre Zweifel, die Entscheidung wird vertagt. Beim Essen klingt Tobias’ Version allerdings ganz anders. Marielle hört ihren Eltern zunächst stumm zu.
Versuchsaufbau mit Kleinfamilie – wer manipuliert wen?
Das ist die kluge Ausgangslage von Frédéric Hambaleks Kinodebüt „Was Marielle weiß“, dem ersten deutschen Film im Wettbewerb. Frédéric wer?, war die spontane Reaktion, als Tricia Tuttle vor einigen Wochen ihren Wettbewerb vorstellte. Aber schon die erste Viertelstunde seines klugen Versuchsaufbaus, der an ein Experiment von Giorgos Lanthimos erinnert, lässt alle Zweifel vergessen. Die Prämisse von „Was Marielle weiß“ ist eine Art psychologischer mexican standoff, bei dem sich ein paar Cowboys gegenseitig mit der Waffe in Schach halten.
Hier sind es die Eltern. Tobias und Julia wissen, dass Marielle die Wahrheit sagt, voreinander bestärken sie sich aber weiterhin darin, dass ihre Tochter nur über eine etwas zu lebhafte Fantasie verfügt. Wer zuerst einknickt, verliert zwar nicht das Leben, aber ein bisschen das Gesicht gegenüber dem Partner. Misstrauen greift um sich, die Kamera verstärkt die Unsicherheit noch, sie sitzt wie eine unsichtbare Macht den Figuren in den unmöglichsten Winkeln im Nacken.
Jetzt geht es darum, die Informationen zum eigenen Vorteil zu nutzen, sich selbst in ein besseres Licht zu stellen: die treue Ehefrau und liebevolle Mutter, der Vater, der hart durchgreift. Am nächsten Tag spricht Tobias im Verlag ein Machtwort, Julia muss ihren Kollegen abwimmeln, ohne den Anschein zu erwecken, dass sie bloß das Rollenspiel fortsetzt. Denn Marielle entgeht nichts.
Die Eltern ziehen für ihre Tochter eine Show ab, wobei nie ganz klar wird, wer hier eigentlich wen manipuliert. Hambalek findet einen maliziösen Witz in diesen Situationen, irgendwann kommt es im Parkhaus zu Handgreiflichkeiten. Auch Marielle weiß die Macht über ihre Eltern zu nutzen, nur kann sie die Folgen noch nicht abschätzen. Und die Wahrheit tut weh.
Mit Superkräften kommt Verantwortung daher – zu viel für eine Zehnjährige. Laeni Geiseler ist eine echte Entdeckung. Gerade weil sie so wenig zu tun hat – sie beobachtet die Eltern umso genauer –, wirkt ihr Spiel zwischen Unschuld, Verletzlichkeit und Enttäuschung so präzise.
Die Ursache für Marielles telepathische Fähigkeiten ist für die Geschichte unerheblich, Hambalek behandelt sie wie einen Zaubertrick. Die Folgen für ihr Verhältnis zu den Eltern – und deren Beziehung – sind aber sehr real. „Was Marielle weiß“ ist beschleunigter Reifeprozess und Vertrauensprobe in einem. Ihr letzter Blick zurück in die Kamera ist nicht mehr der eines Kindes.
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