zum Hauptinhalt
Kette mit Davidstern.

© imago/Christian Ohde/imago/Christian Ohde

Wenn ein Davidstern als Provokation gilt: Ich nehme das mal persönlich

Jüdischen Menschen wird derzeit Spaltung vorgeworfen. Unsere Autorin erinnert sich an eine Zeit, als das anders war – und plädiert für eine Rückkehr zum solidarischen Miteinander.

Ein Kommentar von Ina Rosenthal

Stand:

Ist es eine Provokation, wenn ich einen Davidstern trage, eine Kippa oder ein anderes jüdisches Symbol, das von gojes/gojtes als solches identifiziert werden kann? Und immer wieder schwingt die Assoziation mit, der Davidstern wäre ein Nationalsymbol?

„Das ist zu provokant, mit dem Davidstern auf eine Demo zu gehen“ oder „auf eine Party, auf eine Podiumsdiskussion“. Plötzlich höre ich: „Das sind nicht die richtigen Zeiten, um solche Symbole zu tragen“. Gab es denn Zeiten, in denen das richtiger war? Und warum ist es jetzt falsch? Wen provoziere ich damit, und warum?

Provoziert meine Herkunft, die Geschichte meiner Familie, meine Existenz, mein Respekt vor meinen Ahnen und meiner Religion? Ich bin in Deutschland aufgewachsen, genauso wie meine Eltern und Großeltern. Sie waren sogenannte Deutsch-Juden, assimiliert. Einige von ihnen sind in die Evangelische Kirche gegangen, zur Taufe, zu Hochzeiten und zu Beerdigungen.

Ich bin stolz auf meine jüdischen Wurzeln, sind sie doch voller Resilienz und Trauma und habe mich damit zu der gemacht, die ich jetzt bin. Ich verdanke ihnen viel, nicht nur mein Leben. Ist das jetzt schon provokant?

Auch meine kurzen Haare galten mal als provokant

Es gab eine Zeit in meinem Leben, da waren meine kurzen Haare provokant, sowas hatten junge Mädchen nicht. War es provokant, mich wie ein Junge anzuziehen? Auch das habe ich damals nicht verstanden.

Dann kam eine Zeit, in der ich provokant war, weil ich Frauen liebte, und diese angebliche Provokation lebe ich bis heute. „Man muss es ja nicht so betonen … Was man im Bett macht, geht andere ja nichts an … Warum muss man auf diesen Pride gehen?“ Wie nur provoziere ich mit meiner Existenz die Anderen? Und warum habe ich deren Solidarität verloren? Wann genau war das, und was war der Anlass?

Denn ich erinnere mich auch noch an die Kraft der Community, in der wir immer schon unterschiedliche Meinungen hatten und trotzdem Hand in Hand dem Faschismus, restriktiven Gesellschaftswerten und der Trans- und Homofeindlichkeit entgegengetreten sind.

Ich erinnere mich an eine Zeit, in der jüdisch zu sein in Deutschland etwas war, das man sagen, tragen, ertragen konnte. Weil es eben diese grundlegende Übereinkunft gab, dass niemandem aufgrund der Herkunft, Ethnie, Religion oder Hautfarbe die Existenz abgesprochen wurde. Was ist passiert? Wann haben wir angefangen, gegeneinander zu kämpfen?

Es gab eine Vision von Frieden, Vielfalt und Freiheit

Ich bin wohl eine Provokation, muss ich nun einsehen. Meine bloße Existenz ist etwas, das wohl viele Menschen „zu unbedachten Handlungen veranlasst“, wie es im Duden heißt. Mit diesen Handlungen sind wohl weniger spontane Umarmungen gemeint als Hass und Gewalt. Wenn ich antisemitische Schmierereien an meiner Tür entferne oder mich damit abfinde und trauere, weil es in dem Land, in dem ich lebe, Räume und Orte gibt, in die ich nicht mehr gehen kann oder möchte, weil sie mir keine Schutzräume mehr sind.

Wohin mit der Trauer über die verlorene Solidarität, verlorene gemeinsamen Räume und verlorene konstruktive Begegnungen? Wohin mit uns „Provokant:innen“, die anders waren als die Mehrheit und es immer noch sind? Wir waren damals genauso verschieden wie heute, aber wir hatten eine gemeinsame Vision von Frieden, Vielfalt und Freiheit. Es waren Zeiten, in dem wir Schaum vor dem Mund hatten bei politischen Debatten, und doch am nächsten Tag freundlich und gemeinsam die Reste der Party weggeräumt haben.

Ich vermisse euch.

Und für alle, die es provokant finden, dass ich auf die Israel/Palästina-Fragen hier nicht eingehe, möchte ich sagen: Das ist Absicht. Denn das ist ein ganz anderes Thema, und es geht mir genau darum, zwischen einer politischen Meinung und grundlegendem Hass gegen Personen zu differenzieren. Unter dem Davidstern versammeln sich weltweit Jüdinnen, die unterschiedlichste Haltungen zu Israel und dessen Regierung haben.

Ein Raum, in dem wir unterschiedlich sein können

Ich bin sicher, dass es uns möglich ist, zuzuhören, die Lebensrealität der anderen wahrzunehmen und zu achten, was wir tun und sagen, auch wenn wir nicht einer Meinung sind. Nur zu oft in der Geschichte der Menschheit haben Hass, Gewalt, Spaltung und Entsolidarisierung zu tiefen Abgründen geführt. Diese haben das Problem nicht gelöst, sonst würden wir heute nicht immer noch über Antisemitismus sprechen.

Wenn wir etwas aus der Geschichte gelernt haben, dann doch, dass Spaltung, Vereinfachung von Problemen und das Erschaffen von Feindbildern (auch in der eigenen Community) zu Kriegen führt und somit zu einem Zustand, in dem wir alle verlieren.

Deswegen wünsche ich mir als Betroffene von Mehrfachdiskriminierung einen Raum, in dem wir unterschiedlich sein können und uns doch darauf verlassen können, dass, wenn jemand Leid erfährt, die anderen an seiner/ihrer Seite stehen, mit Mitgefühl und Solidarität. Eben weil wir Menschen dazu in der Lage sind, und niemand aufgrund ihrer Herkunft, Hautfarbe oder Religion in Sippenhaft genommen, die Existenz abgesprochen oder in die Unsichtbarkeit gedrängt werden soll.

Unser einziger Feind ist der Krieg, die Zerstörung und der Hass. Jeder Mensch hat ein Recht auf Unversehrtheit, Respekt und eine Stimme. Lasst uns Lösungen finden, lasst uns unsere Verschiedenheit akzeptieren, lasst uns neue Wege gehen. Lasst uns Teil der Lösung sein, statt das Zündholz zum Problem.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })