
Berlinale-Bilanz: Wer liest, sieht mehr
Nach dem Abspann: Was von der Berlinale übrig bleibt – und Dominik Grafs wunderbarer Porträtfilm über den Filmkritiker Michael Althen „Was heißt hier Ende?“.
Ins Kino gegangen. Geredet. Auch das gehört zu einem Festival wie der Berlinale. Dort sind die Filme in einen Kokon der Gespräche eingesponnen, in den summenden Schwarm all der Worte, die ihre Macher und Zuschauer darüber verlieren. Bei den Publikumsgesprächen nach der Vorführung, auf Pressekonferenzen, Podien und Talks, live und in den Medien, beim Warten vorm Einlass, beim Kneipenbesuch mit den Freunden. Im Saal gehen einem die Augen über, man ist benommen, wenn das Licht wieder angeht. Aber kaum ist der Abspann vorbei, redet man sich die Köpfe heiß.
Mit dem Kino ist es ein bisschen wie mit der Religion. Beide sind Gefühlskraftwerke, bei beiden geht es schnell an die Substanz. Die Frage „Was hast du gesehen? Wie fandest du’s?“ ist eine Glaubensfrage. Man tauscht nicht einfach Meinungen aus, sondern verständigt sich über Haltungen, Wahrheiten, Intimitäten, darüber, was einem zu Herzen geht. Wer ist da nicht empfindlich. Kann K. noch meine Freundin sein, wenn sie Werner Herzogs Wüsten-Schmonzette „Queen oft the Desert“ im Ernst für gelungen hält? Was ist das für ein Frauenbild? Was habe ich mit M. noch gemeinsam, wenn er Greenaways Humor, seine Frechheiten und Freiheiten bei den Sex-Szenen von „Eisenstein in Guanajuato“ für kunstgewerblichen Schnickschnack hält? Und was mit P., wenn er sich über den Goldenen Bären für „Taxi“ aus Iran aufregt, weil Diktaturen anders ticken, wie er mir weismachen will?
Reden wir über Film, reden wir über uns. Oft mit größerer Intensität als beim Reden übers Theater, über Literatur oder Kunst. Wegen der Unmittelbarkeit, mit der Menschen und ihre Geschichten uns anfallen, aus dem Dunkel des Kinos heraus. Auch wenn es stimmt, dass viele Filme heute eher zahme Haustiere als Bestien sind, wie es „Victoria“-Regisseur Sebastian Schipper bei der Berlinale-Preisverleihung der unabhängigen Jurys formulierte, rücken sie dem Zuschauer doch in einer Weise auf den Pelz, dass Gegenwehr nicht selten zwecklos ist. Man erregt sich, ereifert sich, empört sich. Manchmal bleiben Bisswunden zurück.
Grafs Film über Michael Althen kommt im Frühsommer in die Kinos
Die Filmkritik redet mit. Sie macht Stimmung, kanalisiert, polarisiert, regt Debatten an, verstärkt sie. Der Kritiker hält das Gespräch über Kino in Gang, weniger als Warentester und Kunstrichter denn als jemand, der versucht, den Blick der Bilder zu erwidern, aufmerksam, geduldig, mit der Obsession eines Liebenden. So war es jedenfalls bei Michael Althen, dem 2011 mit erst 48 Jahren gestorbenen, überaus geschätzten Kollegen von der „FAZ“ und davor der „Süddeutschen Zeitung“. Dominik Graf hat einen klugen, zärtlichen Porträtfilm über Althen gedreht; „Was heißt hier Ende? Der Filmkritiker Michael Althen“ kommt im Mai oder Juni ins Kino. Schöne Geste des Forums, den Film gegen Ende der Berlinale im Delphi zu programmieren. Zu einem Zeitpunkt, an dem die Festivalbilder sich zu setzen beginnen. Und an einem Ort, wie Althen ihn liebte.
Das Delphi gehört zu jenen großen alten Lichtspielhäusern, die das Kinosterben und den Multiplex-Boom überlebt haben. Als Althen zur Welt kam, gab es in seiner Heimatstadt München Kinos an jeder Ecke. Als warteten sie auf diesen kleinen Jungen, vor dessen Augen die Seifenblasen tanzen – damit endet der Film. Die Litanei der Namen von Alhambra und Astra bis Tivoli löst Wehmut aus.
Der Film, der ein Fenster aufreißt zur Welt. Der Schock des Kunstwerks. Die Einsamkeit eines Helden. Die Stille einer Landschaft. Der deutsche Film und was er über Deutschland weiß. Die Sinnlichkeit der Farben. Und der Traum, die schönste Frau der Welt zu treffen, wird tatsächlich wahr, weil man sie zum Interview trifft. Beruf: Filmkritiker. Für Michael Althen war die Profession immer eine Passion, das gibt es nicht mehr oft heutzutage.
Noch im grauenhaftesten Film suchte er den einen guten Moment. Daran erinnern in Grafs Film Kollegen und Weggefährten, die Kinder Artur und Teresa, die Journalisten Stephan Lebert, Andreas Kilb, Anke Sterneborg, Peter Körte und andere, die Filmemacher Tom Tykwer, Caroline Link, Christian Petzold, Romuald Karmakar. Wim Wenders nennt ihn einen Komplizen. Althen scheute die Nähe zu den Regisseuren nicht, er hatte keine Angst vor Befangenheit, war er doch ein Vor-Eingenommener im besten Sinne. Kilb nennt es ein „grundsätzliches Einverstanden-Sein“ mit dem Film. Manchmal wechselte Althen auch einfach die Seite; mit Dominik Graf drehte er unter anderem die Hommage „München – Geheimnisse einer Stadt“.
"Wir waten durch die Pfützen der Erinnerung, ehe sie versickern"
Michael Althen schrieb meistens nachts, gerade auf Festivals, nach der letzten Vorführung, nach dem letzten Glas in der Bar, dann, wenn wir anderen schliefen. Seine Texte entstammen der Nacht, aus der die Bilder kommen, jener Höhle namens Kino, in der man beieinanderbleibt und doch in die Einsamkeit flieht. Vielleicht spenden sie deshalb so etwas wie Trost, mit der leisen Melancholie, die Althens Schreiben einfärbt. Am schönsten waren seine Nachrufe, auf Antonioni, Audrey Hepburn oder Paul Bowles.
Was von der Berlinale bleibt, sind nicht zuletzt auch die Festival-Nachrufe, die Bilanzen undSchlaglichter, der Nachhall in den Medien. Was hätte Althen zur 65. Berlinale gesagt? Zum politischen Paukenschlag, den die Jury am Ende gesetzt hat (das Politische war weniger seine Sache)? Zu all den Religionsfilmen, den himmlischen Drehbuchautoren in „Chasuke’s Journey“, dem esoterischen Bilderrausch eines Terrence Malick, den Opfer-Täter-Priestern in „El Club“ aus Chile? Gewiss hätte er über die Frauen geschrieben, über Juliette Binoche, Nicole Kidman, Cate Blanchett, Alba Rohrwacher. Er hätte Charlotte Rampling in „45 Years“ gehuldigt, in deren Gesicht allein sich das Drama eines ganzen Lebens abspielt. Vielleicht hätte er sich auch in Laia Costa verliebt, die junge Spanierin in Schippers „Victoria“.
„Und es ist mit all diesen Bildern, als sei ein großer Regen über uns niedergegangen, und wir waten durch die Pfützen der Erinnerung, ehe sie versickern“, schrieb Michael Althen in seinem Kinobuch „Warte, bis es dunkel ist“. Ein Satz wie aus einem Modiano-Roman. Gibt es einen schöneren zum Ende der Berlinale?