zum Hauptinhalt
Wim Wenders ist mit zwei Filmen an der Croisette vertreten.

© AFP/JULIE SEBADELHA

Wim Wenders ganz stark in Cannes: Ein Mixtape auf Rädern durch Tokio

Wim Wenders kehrt nach fast vierzig Jahren nach Japan zurück und hat mit „Perfect Days“, einer stillen Meditation über das Leben, seinen schönsten Film seit Langem gedreht.

Von Andreas Busche

In der Aufmerksamkeitsökonomie eines Filmfestivals gehört der „What the Fuck“-Moment zu den definierenden Augenblicken, der bestenfalls darüber entscheiden kann, ob es sich um einen denkwürdigen oder doch nur um einen guten (oder gar vergessenswerten) Jahrgang handelt. Ersteres ist selbstverständlich auch ohne WTF-Erlebnis möglich, wenn – wie in diesem Jahr – die Qualität des Wettbewerbs so konstant hoch ist. Im schlimmsten Fall ziehen sich die zwölf Tage an der Croisette zäh dahin; auch das kennt man aus Cannes.

Witze über Netflix gefallen Thierry Frémaux

Die Streamingdienste, die Festivalchef Thierry Frémaux lieber von der Croisette fernhalten möchte, haben sich die Algorithmen nutzbar gemacht, um das „Kundenverhalten“ zu steuern. Der erste „What the Fuck“-Moment müsse irgendwann zwischen der zweiten und siebten Minute kommen, erklärt die Netflix-Produzentin in Nanni Morettis Meta-Komödie „Il sol dell’avvenire“ („A Brighter Tomorrow“) dem von Moretti selbst gespielten Regisseur Giovanni – womit der in Cannes die Lacher natürlich auf seiner Seite hat. Das war es dann allerdings auch schon: Sein Giovanni, der sich auf die Spuren der kommunistischen Bewegung in Italien begibt, erschöpft sich in komischer Verzweiflung und Grimassieren.

Nanni Moretti ist ein langjähriger Freund des Festivals, die Einladung an die Croisette verdankt sich sicher nicht allein dem Netflix-Seitenhieb. Das muss man Frémaux lassen: Loyalität wird in Cannes gepflegt. Sie beschert in diesem Jahr auch Wim Wenders seine zehnte Teilnahme am Wettbewerb – mit einem Film, der sich für den Festivalveteranen wie eine Rückkehr zu seinen Anfängen anfühlen muss.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Selbstredend ist Wim Wenders alles andere als ein WTF-Filmemacher (auch wenn sein vorheriger Spielfilm „Grenzenlos“ in manchen Momenten durchaus für diesen Einwurf qualifiziert). Sein Film „Perfect Days“ wertschätzt vielmehr die stillen Momente und die Außenseiter der japanischen Gesellschaft. Hirayama (Kōji Yakusho) arbeitet als Toilettenreiniger in Tokio, seine Aufgabe übt er mit Zen-artigem Pflichtbewusstsein aus. Wenders und sein Kameramann Franz Lustig begleiten die Alltagsroutinen des Mannes, auf seinen Fahrten durch die Stadt in einem kleinen Van, in dem auf Musikkassetten Lou Reed, The Animals, Otis Redding und Patti Smith laufen. „Perfect Days“ ist nicht zuletzt auch ein Mixtape auf Rädern.

Wim Wenders inszeniert ein Film-Haiku

Das Tokio, das „Perfect Days“ einfängt (der Titel beschreibt treffend die Lebenseinstellung seiner Hauptfigur), sieht man im Kino eher selten: die randständigen Stadtteile mit ihren leicht verfallenen, niedriggeschossigen Häusern, die wie aus der Zeit gefallen wirken. Einzig der 2012 erbaute Fernsehturm „Skytree“, der von überall aus sichtbar zu sein scheint, verschafft vage Orientierung auf Hirayamas Fahrten über die Stadtautobahnen. Das Besondere an Wenders Haiku-Inszenierung, die mit keinem Dialogsatz mehr als nötig auskommt, ist seine Offenheit für diese Stadt, die er bereits 1985 mit seinem Dokumentarfilm „Tokyo-Ga“ porträtierte.

Der Toilettenreiniger Hirayama (Kōji Yakusho) bekommt in Wim Wenders’ „Perfect Days“ Besuch von seiner Nichte Niko (Arisa Nakano).
Der Toilettenreiniger Hirayama (Kōji Yakusho) bekommt in Wim Wenders’ „Perfect Days“ Besuch von seiner Nichte Niko (Arisa Nakano).

© Road Movies

Wenders, dessen 3D-Dokumentarfilm „Anselm“ bereits vor einer Woche seine Premiere hatte, interessiert sich für die Menschen; und das ist weniger banal, als es zunächst klingt. Durch seinen Blick auf die Peripherie der Stadt und ihrer Bewohner entgeht „Perfect Days“ so auch der Verklärung der modernen japanischen Gesellschaft – aus der Perspektive eines Europäers (was in seinen von Amerika inspirierten Filmen ja durchaus einen Reiz besaß). Wenders registriert beiläufig, was nicht zuletzt eine wunderbare Typologie von öffentlichen Toiletten in Tokio hervorbringt: nicht um der Skurrilität willen, sondern als dokumentarische Bestandsaufnahme im Stil der Architekturfilme von Heinz Emigholz.

Lakonische Beobachtungen mit subtilem Witz

Die Begegnungen Hirayamas mit seinen Mitmenschen sind zufällig und entbehren jeder äußeren Dramatik. Sie besitzen einen subtilen Witz, der sich in den lakonischen Beobachtungen Wenders fortschreibt. Der Besuch seiner Nichte Niko (Arisa Nakano) gibt gerade so viel Einblick wie nötig in Hirayamas Familiengeschichte; und die Zufallsbekanntschaft mit dem krebskranken Ex-Ehemann der Besitzerin seiner Stammkneipe kippt nicht in sentimentale Register. Sie endet bloß damit, dass die beiden erwachsenen Männer die Schatten des anderen einzufangen versuchen. Wenders hat die Lehren des japanischen Großmeisters Hirokazu Koreeda, der mit dem tollen Film „Monster“ ebenfalls im Wettbewerb steht, verinnerlicht – und trotzdem ein eigenes Werk voller Miniaturen, vor allem aber: ohne Misstöne, geschaffen.

Papst Pius IX. (Paolo Pierobon) in Gesellschaft seinet Schäfchen in „Rapito“ von Marco Bellocchio.
Papst Pius IX. (Paolo Pierobon) in Gesellschaft seinet Schäfchen in „Rapito“ von Marco Bellocchio.

© Anna Camerlingo

Donata Wenders wiederum verbindet in den in Schwarz-weiß gedrehten „Traumsequenzen“ die konkreten Erfahrungen des urbanen japanischen Alltags, die biografischen Spuren Hirayamas, der seine Pausen am liebsten mit seinen „Baumfreunden“, wie Niko einmal sagt, im Park verbringt, und dessen Analogfotografien von Bäumen zu lyrischen Übergangsriten. Und zwar nicht nur für Hirayama, der vollkommen mit sich selbst im Reinen ist. Sondern insbesondere auch für den Regisseur, der auf seine alten Tage die Eloquenz und Eleganz der beiläufigen Beobachtung wiederentdeckt hat.

Der Papst raubt jüdische Kinder

In die Kategorien Altmeister und Cannes-Stammgast gehört auch der italienische Filmemacher Marco Bellocchio, der mit seinen 83 Jahren produktiver denn je ist. Das Historiendrama „Rapito“ („Kidnapped“) bezieht sich auf der Praxis der Kirche im 19. Jahrhundert, die jüngsten Kinder jüdischer Eltern zu entführen und zum katholischen Glauben zu konvertieren. Mit der Verfilmung der wahren Geschichte der bürgerlichen Familie Mortara und deren Kampf für die Rückkehr ihres im Alter von sechs Jahren entführten Sohnes Edgardo greift Bellocchio noch einmal sein Thema der Verflechtung von Kirche und Politik auf.

„Rapito“ ist dabei ein, trotz seiner routinierten Inszenierung, erstaunlich lebendiges Historienepos, bei dem sich Bellocchio auf seine jahrzehntelange Erfahrung verlassen kann. Paolo Pierobon spielt den Widersacher der Mortaras, Papst Pius IX., als schillernden Bösewicht, der sich buchstäblich bis zum letzten Atemzug gegen die sich wandelnden Machtverhältnisse im modernen Italien stemmt. Nach Filmen über die Entführung von Aldo Moro und die großen Mafia-Prozesse erweist sich Bellocchio damit weiterhin als eminent politischer Filmemacher des italienischen Kinos.

Dass selbst mit den Altmeistern ist in diesem Cannes-Jahrgang zu rechnen ist, passt ins Gesamtbild. Es macht auch Hoffnung für den Abschlusstag am Freitag, der sozusagen das Beste beider Welten vereint: die italienische Regisseurin Alice Rohrwacher und den britischen Gerechtigkeitskämpfer Ken Loach. Sie trennen fast fünfzig Jahre.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false