
© Abb.: Eduardo Hernández Pacheco
Krieg und Gesellschaft: Wir Kinder des Vaters aller Dinge
Politik spielt keine große Rolle: Margaret MacMillan sieht militärische Konflikte als anthropologische Konstante.
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Früh in ihrer Karriere, erzählt die Autorin in der Einleitung, beriet ein Pädagoge die Dozenten ihrer Fakultät mit dem Ziel, das Lehrangebot attraktiver zu gestalten. Als sie einen Kurs mit dem Titel „Krieg und Gesellschaft“ anbieten wollte, sah der Mann sie missbilligend an. Es sei besser, ihn „Eine Geschichte des Friedens“ zu nennen. Die kanadische Historikerin Margaret MacMillan, inzwischen 77 Jahre alt, hat sich davon nicht aufhalten lassen und dem Krieg einen Großteil ihrer akademischen Laufbahn gewidmet.
Sie kann sich auch deshalb noch so gut an die Szene erinnern, weil sie bezeichnend sei für die Behandlung ihres Themas. „In den meisten westlichen Universitäten wird die Erforschung des Krieges weitgehend vernachlässigt – vielleicht weil man fürchtet, die bloße Beschäftigung mit ihm bedeute bereits, ihn zu billigen.“ Dabei sei diese unbedingt vonnöten, da der Krieg, so ihre erste These, zum Menschen gehöre. Immer schon, so interpretiert sie archäologische Funde, habe er sich im Kampf befunden.
„Krieg“ heißt denn auch, schlicht und zugleich ambitioniert, ihr neues Buch. Sie untersucht darin nicht eine bestimmte Auseinandersetzung oder die Entwicklungsgeschichte organisierter Gewaltausübung, sondern beleuchtet ihr Thema kapitelweise aus unterschiedlichen Perspektiven. Kühn führt sie durch die Geschichte, springt vom Ersten Weltkrieg nach Afghanistan und zurück zum Amerikanischen Bürgerkrieg.
[Margaret MacMillan: Krieg. Wie Konflikte die Menschheit prägten. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. Propyläen Verlag, Berlin 2021.
384 Seiten, 30 €.]
Nicht viel habe sich über die Jahrhunderte hinweg geändert, konstatiert sie im Kapitel „Kriegsgründe“, lediglich das Vokabular sei neu. „Wo einst von Ehre die Rede war, spricht man heute eher von Prestige oder Glaubwürdigkeit. Doch Habgier, Verteidigung sowie Gefühle und Ideen sind nach wie vor die Geburtshelfer des Krieges.“
Sklaven und Zwangsrekrutierte
Krieg ist für sie eine anthropologische Konstante, die Rekrutierung und Formung von Kriegern forderte jedoch von jeder Zeit und Kultur Spezifisches. Sklaven und Zwangsrekrutierte dienten in der Armee, im 18. Jahrhundert wurden Verbrecher vor die Wahl gestellt: Hinrichtung oder Militärdienst. Freiwillige lockte das Versprechen auf Beute, sozialen Aufstieg und Ruhm.
„In Deutschland hörten junge Männer vor 1914 von den Älteren immer wieder Geschichten darüber, was sie erlitten und geopfert hatten, um in den Einigungskriegen den Nationalstaat zu errichten, und sie sehnten sich – jedenfalls sagten sie das – nach einer Chance, es ihnen gleichzutun. Währenddessen träumten bei Deutschlands Feinden, Frankreich und Großbritannien, junge Männer davon, heldenhaft ihre Heimat zu verteidigen und (im Fall von Frankreich), Rache zu üben für die Niederlage von 1870/71.“
Keine Indoktrination und kein Drill garantieren jedoch, dass Menschen in einer Schlacht wirklich zu töten bereit sind. MacMillan zitiert eine Studie, der zufolge nur 15 bis 25 Prozent der amerikanischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg auf ihre Feinde zielten, „die übrigen schossen entweder daneben oder überhaupt nicht“. Die Kapitelüberschrift „Wie Krieger gemacht werden“ lehnt sich wohl nicht zufällig an das berühmte Zitat Simone de Beauvoirs an, laut der eine Frau nicht als solche zur Welt komme.
Kämpferische Mannestugenden
Ein Mann zu sein, heißt oft noch bis heute, kämpferische Tugenden anzunehmen. Das Militär verteidigte die Rollenverteilung auch dann noch vehement, als immer mehr Frauen zu den Waffen griffen. Die britische Armee entfernte im Ersten Weltkrieg die Brusttasche von Frauenuniformen – „aus Furcht, sie würde die Aufmerksamkeit auf die nackte Tatsache darunter lenken“. Und dem amerikanischen Frauen-Armee-Korps wurde nachgesagt, sie seien kaum besser als Prostituierte und gingen nur zum Militär, um sich einen Mann zu angeln.
Die Erfordernisse des modernen Krieges begünstigte jedoch faktisch die Gleichstellung. Im Ersten Weltkrieg stellten ganze Volkswirtschaften ihre Produktion auf die Erfordernisse des Militärs ein, was Frauen neue berufliche Perspektiven eröffnete. Ihr Beitrag an der „Heimatfront“ sei ein wichtiges Argument für die Einführung des Frauenwahlrechts gewesen, wie der Krieg ohnehin positive Effekte zeitigen könne.
Krieg und Gesellschaft sind bei MacMillan immer aufeinander bezogen. Erst der Nationalismus habe jene militärische Potenz für die Kriege des letzten Jahrhunderts garantiert, für die ganz neue Begriffe wie „Weltkrieg“ oder „totaler Krieg“ erfunden werden mussten.
Der Nationalstaat wiederum gewährte seinen Bürgern mehr und mehr Rechte. Die Wehrpflicht förderte die politische Mitbestimmung der Massen, weil der Staat Zugeständnisse machen musste, um aus seinen Einwohnern loyale Bürger und Soldaten zu formen. Diese Beschreibung mag zutreffen, allerdings um den Preis einer erheblichen Reduktion gesellschaftlicher Prozesse.
Krieg als eigenständige Instanz
Aufklärung, Industrialisierung, Kapitalismus und Verstädterung dürften auch dort erheblichen Einfluss auf emanzipatorische Projekte gehabt haben, wo sie keine militärischen Wirkungen entfalteten. Es zeigt sich hier eine Schwäche des Ansatzes, ein Buch über „Krieg“ zu schreiben, statt über einen bestimmten Krieg, dessen Verlauf und Auswirkungen MacMillan untersuchen könnte, um von diesen Erkenntnisse ausgehend allgemeine Schlüsse zu ziehen.
Für sie ist Krieg eine Dynamik für sich, eine eigenständige Instanz. Wohl deshalb folgt ihr Buch keiner Chronologie, jeder Krieg erscheint bei ihr als Ausformung des Krieges an sich. Die Brisanz dieser These liegt in der Entpolitisierung gewaltsamer Konflikte. War für Clausewitz der Krieg lediglich die „Fortführung der Politik mit anderen Mitteln“, scheint das Politische für MacMillan keine Rolle zu spielen. Krieg ist bei ihr eine Unausweichlichkeit und nicht eine spezifische Form, Konflikte auszutragen, die auch durch eine andere Form ersetzen ließe. Versuche, ihn zu kontrollieren oder auch nur zu rechtfertigen, hält sie konsequent für vertane Mühe. Wenn er zur Menschheit gehört, von Menschen geführt, aber nicht menschengemacht ist, ergibt eine Rechtfertigung keinen Sinn.
Sie nimmt den Krieg damit aus den Händen der Menschen. Nicht sie nutzen seine Mittel, der Krieg selbst bedient sich ihrer. Er ähnelt bei ihr einem antiken Gott, allerdings mit dem Unterschied, dass die Alten Griechen mit ihren Göttern paktierten, sie gegeneinander ausspielen oder vielleicht sogar überlisten konnten. Im Verhältnis zwischen Krieg und Gesellschaft, das MacMillan beschreibt, ist ein solcher Sieg aussichtslos.
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Bitter fällt ihre Prognose aus. Nur die Weiterentwicklung der Waffensysteme könne den Krieg endgültig beenden, indem sich die Menschheit selbst auslöscht. Natürlich eignet sich ihr Thema nicht für Optimismus, MacMillan mag also richtig liegen.
Vielleicht verbirgt sich aber auch gerade hinter der Schicksalsergebenheit, die sich durch ihr Buch zieht, ein Grund dafür, dass der Mensch es bisher nicht geschafft hat, über seine Tendenz zur Gewalt hinauszuwachsen. Der Pädagoge, der sie einst an ihrer Universität von dem Kurs „Krieg und Gesellschaft“ abhalten wollte, hatte also womöglich doch einen Punkt.
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