
© Yuriy Gurtzhy
Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch: „In der Zukunftsstadt Edenia“
Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.
Stand:
15.2.2023
„Bist Du Dir sicher, dass es nicht klappt?”, fragt sie. „Oh Mann, wie blööööd!” Klar bin ich mir sicher, und sehr schade finde ich es auch. Aber ich kann leider nichts machen, es hat sich so ergeben. Am Freitag, an dem meine Freundin mich gerade zur Berliner Premiere von Sean Penns neuer Doku einladen möchte, kann ich leider nicht mitkommen, obwohl ich es mir natürlich wünschen würde.
2022 war Sean Penn einige Male in der Ukraine und hat dort gefilmt. Ich hätte mir das Ergebnis gern angeschaut, besonders in Anwesenheit des Regisseurs. Aber ausgerechnet an diesem Abend habe ich selber einen Auftritt. Ihn abzusagen, wäre unvorstellbar, einige Tickets sind bereits verkauft. Heute rief bei Panda Platforma, wo wir spielen, eine Gymnasiallehrerin an, die sich erkundigen wollte, ob sie mit einer ganzen Klasse zu unserem Konzert kommen dürfte.
Aber natürlich, die Schüler sind bei uns herzlich willkommen, sagte ich und musste dabei an die gestrige Veranstaltung „Russischer Krieg in der Ukraine. Konsequenzen für die Geschichtspolitik“ im Berliner Jüdischen Museum denken, wo die Zuschauer mit der ernüchternden Statistik konfrontiert wurden, wie viele Jugendliche in Deutschland keine Ahnung haben, welche Rolle die Ukraine im Zweiten Weltkrieg gespielt hat, und wie viele glauben, ihre Vorfahren in der NS-Zeit gehörten zu den Opfern und nicht zu den Tätern.

© Yuriy Gurzhy
Es tat gut, von der Bühne klare Worte von Claudia Roth zu hören. Ich hoffe, sie kommen bei möglichst vielen meiner deutschen Mitbürger*innen an: Bei diesem Krieg geht es um die Vernichtung der Ukraine. Angegriffen wird alles, was die ukrainische Identität ausmacht, auch die Kultur und die Geschichte, die russland konsequent versucht, umzuschreiben.
Zum Ausklang der Veranstaltung habe ich im Foyer ein paar Platten aufgelegt. Auch wenn ich immer großen Spaß am Auflegen habe, komme ich seit einem Jahr selten dazu. Ich kann mir gerade nur schwer vorstellen, Menschen mit meiner Musikauswahl zum Tanzen zu bringen. Ich bin in falscher Stimmung dafür. Aber im Jüdischen Museum war an diesem Abend mit einer tanzenden Menge auch nicht zu rechnen. Ich durfte einige nicht unbedingt zum Tanzen geeignete Perlen aus meiner Sammlung auflegen: Songs aus der Ukraine, bei denen sich Jiddisch und Ukrainisch vermischen, oder westukrainische Volksmusik, die leicht mit Klezmer verwechselt wird.
In der Zukunftsstadt gibt es Autotelefotofone und Aerozüge
Auch mein Projekt The jUkrainians, mit dem wir am Freitag unser erstes Konzert in Berlin geben, befasst sich mit diesen Überschneidungen jüdischer und ukrainischer Welten. Als ich mich letztes Wochenende auf die Suche nach neuen Inspirationen begab, stieß ich auf die ukrainische Übersetzung der 1918 auf Jiddisch geschriebenen Utopie „In der tsukunft-shtot Edenye“.
In diesem höchst interessanten und merkwürdigen Buch stellte sich der Autor Kalmen Zingman meine Heimatstadt Charkiw im Jahr 1943 vor. In seiner Vision hätte es 25 Jahre nach der Buchveröffentlichung schon Autotelefotofone und Aerozüge geben sollen. Das Geld wäre abgeschafft, und in Charkiw, das in Edenia umbenannt gewesen wäre, würde man hauptsächlich Jiddisch und Ukrainisch sprechen. Wow! Mir fiel sofort eine Melodie dazu ein, die ich meinen Musikerkollegen schickte.
Edenia… Die Realität sah 1943 leider anders aus, und Charkiw war das Gegenteil von Edenia. Erst im August wurden nach einem langen blutigen Kampf die Nazis aus der halb zerstörten Stadt verjagt. Heute, 80 Jahre später, wird dort wieder gegen Nazis gekämpft, bloß kommt der Feind nicht mehr aus Deutschland, sondern aus russland. Hätte man darüber in einem utopischen Roman vor 25 Jahren geschrieben, würden die Leser es bestimmt ähnlich unglaubwürdig finden wie ein Autotelefotofon im Jahr 1918.
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