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Geliebt, gehasst. Als Stadt ist Marseille ein Moloch, als Europäische Kulturkapitale für viele ein Ärgernis. Blick vom Alten Hafen auf die Basilika Notre-Dame de la Garde.

© AFP

Kulturhauptstadt 2013: Zehn Sekunden Nase drehen

Warum Künstler in Marseille gegen das Projekt „Europäische Kulturhauptstadt“ auf die Barrikaden gehen. Zwischen der Szene und den offiziellen Programmmachern herrscht Uneinigkeit darüber, für wen das Festival eigentlich gedacht ist.

Marseille, du Ungeliebte, Unbekannte, Verhasste – Feindbild der französischen Bourgeoisie! Du Bastard des Kolonialismus, Fremdkörper unter Europas Metropolen! Marseille ist anders als jede andere Stadt in Frankreich: mit Mittelmeerstränden gesegnet, und doch fernab von aller mediterranen Lieblichkeit, kristallklar, immer unbequem und aufmüpfig. „La ville rebelle“ – schon Napoleon wusste, dass dieser Stadt nicht zu trauen ist. Als er die großen Festungsanlagen am Hafen errichten ließ, blickten die Schießscharten der Armee gleich zu zwei Seiten hin: nach außen auf das Meer und nach innen zur Stadt, auf die unberechenbare Bevölkerung.

Marseille ist anders als das großzügige, palmengeschmückte Nizza. Dafür aber fast ohne Touristen, authentisch und rau in seinem flirrenden blauen Licht. Hart, aber herzlich – Charakterzüge, die man sonst gern mit Berlin assoziiert. Noch immer verbreitet der Moloch am südlichen Zipfel der Provence Angst und Schrecken. Die Franzosen meiden Marseille, trauen sich kaum in die Kapitale des Verbrechens. Erst im letzten Jahr gab es bei Drogenbandenkriegen fünf Tote. In Lyon und Paris rümpfen sie die Nase über das Schmuddelkind am Meer.

„Ich habe Verständnis für Sicherheitsbedenken, die mögliche Besucher abschrecken könnten“, sagt Ulrich Fuchs, Generaldirektor von „Marseille-Provence 2013“, so der offizielle Titel des Kulturhauptstadt-Jahres. Ein wirkliches Risiko sieht er aber nicht. Marseille präsentiert sich in diesem Jahr als Europäische Kulturhauptstadt, gemeinsam mit dem slowakischen Kosice. Am gestrigen Sonnabend wurde das Kulturjahr mit großem Getöse eröffnet, doch nicht allen ist nach Feiern zumute. Das Stimmungsbarometer steht auf Revolte und offener Aggression.

„Wir brauchen hier keine prestigeträchtigen Hochglanzveranstaltungen, Marseille hat andere Probleme“, sagt der Künstler Gilles Desplanques mit Blick auf die Bagger und Bauzäune vor dem Alten Hafen, hinter denen das hellblaue Wasser verschwindet. „Zum Beispiel die Kultur. Die Regierung tut nichts für uns Künstler. Unter Kultur versteht man hier nur erzkonservatives Zeug: Marcel Pagnol, die Figurenschnitzer der Weihnachtskrippen.“

Es stimmt: Frankreichs ältester Stadt, angeblich vor 2600 Jahren von einem fremden Prinzen gegründet, fehlt bisher ein funktionierendes Stadtmuseum, erst recht ein Museum für zeitgenössische Kunst. Jetzt, dank des Geldregens für die Kulturhauptstadt, soll die Gegenwartskunst endlich Einzug halten, darunter eine Experimentierstätte der Performance-Künste in einer alten Tabakfabrik sowie das MuCem, das „Museum der europäischen und der Mittelmeerkulturen“, das eine Brücke schlagen soll zwischen Orient und Okzident. Doch Gilles Desplanques winkt ab: „Das ist doch alles nur Blabla, viel zu wenig. Hier lebt eine Million Menschen, die das Becken des Mittelmeeres mitgeprägt haben. Die fühlen sich völlig unterrepräsentiert.“

Es grummelt in Marseille. Das bestätigt auch Mika Biermann, der vor dreißig Jahren aus dem Ruhrgebiet hierher kam und sich als Journalist und Fremdenführer bestens in der lokalen Kulturszene auskennt: „Die Künstler sind sauer. Da sitzt im Hauptquartier der Europäischen Kulturhauptstadt, in der prachtvollen Maison Diamantée, eine hübsche blonde Dame und verteilt nach Gutsherrenart Budgets zwischen 10 000 und 200 000 Euro an ein Dutzend ausgewählter Künstler – doch die lokale Szene geht überwiegend leer aus. Das ist ein riesiges Missverständnis. Dafür war das Kulturhauptstadtjahr nicht gemacht.“

Ulrich Fuchs, der Mann, den sie vor zweieinhalb Jahren als Krisenmanager aus Deutschland geholt haben, kann die Emotionen nachvollziehen. Aber: „Es geht nicht allein um Marseille. Dies ist ein euro-mediterranes, internationales Festival. Lokale Künstler fühlen sich oft übergangen. Das kenne ich schon aus anderen Städten“, sagt Fuchs, ein Veteran des Kulturhauptstadtprojekts, der auch fünf Jahre in Linz tätig war.

Vielleicht wäre alles weniger dramatisch, wenn sich die Marseiller nicht grundsätzlich durch die angeblich arrogant auftretenden, als Fremdkörper empfundenen Schlipsträger aus der Hochkultur provoziert fühlten. Doch es geht um mehr: die Identität der südfranzösischen Metropole. Das einstige Tor zum Orient ist heute die Eingangstür für Algerier, Marokkaner, Schwarzafrikaner. Sie leben in einer Stadt der Gegensätze, einer Metropole, die selbst nicht weiß, was sie sein will. Selbst Erfolg gilt hier als suspekt, sagt die Künstlerin Anne Valérie Gasc. „Erfolg hat für die Einwohner von Marseille etwas Anrüchiges. Marseille will immer Dritter werden, nicht Erster. Wenn der Fußballclub Olympique Marseille französischer Meister wird, dann fragt sich jeder: Wieso eigentlich? Sollten wir nicht Dritter sein? Die Menschen hier wollen ihre Ruhe. Ihnen ist es lieber, wenn man sie unterschätzt.“

Anne Valérie Gasc weiß, wovon sie spricht. Sie stammt aus Marseille und ist wie fast alle Kreativen vor Jahren nach Paris gegangen. Doch glücklich ist sie erst, seitdem sie wieder zurückgekehrt ist. Ihre Spezialität: Abrisse, Zerstörungen. Davon handelt ihre Kunst. Der Moment der Destruktion, meint sie, sei ein künstlerischer Moment, in dem etwas Neues geschaffen und das Bestehende infrage gestellt werde.

Trotz der schlechten Arbeitsbedingungen, der mangelnden politischen und finanziellen Unterstützung heißt es für viele Kulturschaffende: Jetzt erst recht! Sie gehen in die Offensive. Zum ersten Mal in der Geschichte einer europäischen Kulturhauptstadt wird ein Off-Festival auf die Beine gestellt. Jeder soll mitmachen können bei diesem fröhlichen Festival des Antikonformismus. Da ist zum Beispiel die Aktion „Die Kultur bereitet uns Kopfschmerzen“. Jeder kann ein zehnsekündiges Video einschicken, in dem er mit seiner Mimik einen Kommentar zur Lage abgibt. Zehn Sekunden, in denen die Kamera nur auf das Gesicht hält. Das ist herrlich lustig und leicht und zugleich sehr profund.

Die Komik, die Lässigkeit der Off-Künstler – sie machen den Kulturhauptstadtleiter Ulrich Fuchs fast eifersüchtig: „Bei uns selber vermisse ich manchmal so etwas wie Humor oder Selbstironie im Programm. Da sind die Alternativen besser drauf. Ich amüsiere mich, wenn ich auf deren Website schaue, gelegentlich mehr als bei uns.“

Der Off-Szene geht es um die Menschen in Marseille, die Alltagsrealität der Stadt, die Verfilzungen der Wirtschaft, die kurzen Wege von Politik und Mafia. Einer der vielen Programmpunkte lautet „Taxi Driver in Marseille“. Der früher allmächtige Chef der Taxi-Innung sitzt im Gefängnis, in seiner Kasse fehlten plötzlich eine Million Euro – ein gefundenes Fressen für die alternative Kultur. „Ich würde Sie ja gerne mitnehmen, aber ich habe keinen Führerschein“, lautet die Kunstaktion. Das könnte – als ironisches Motto – über dem ganzen alternativen Kulturjahr 2013 stehen.

Die offiziellen Künstler der Kulturhauptstadt sind derweil weniger amüsiert. Während die Gehälter der Top-Kulturmanager in drei Jahren um 17 Prozent stiegen, bekommen die Kulturschaffenden immer weniger. Die Organisation der „Europäischen Kulturhauptstadt“ streicht 30 Prozent des Budgets für sich selbst ein – für Werbung und Kommunikation, heißt es. Doch die Werbung läuft schlecht, und die Künstler sollen zunächst nur ein Sechstel des vorgesehenen Kulturbudgets ausgezahlt bekommen – skandalös wenig.

Da ist die Stimmung besser bei den lustigen Alternativen, die sogar ein Gegenlied zur offiziellen Kulturhauptstadthymne komponiert haben mit rotzig-verspielten Reggae-Tönen. Das auf Youtube einsehbare Video mit dem Titel „Algarade“, was so viel wie „Streit“ bedeutet, kommt als südlicher, trotzig-tropischer Song in der Tradition Bob Marleys daher – auch wenn dieser Süden diesmal nicht in der Karibik liegt, sondern am Mittelmeer.

Werner Bloch

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