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Szczepan Twardoch, Autor des Buches "Demut"

© promo

Szczepan Twardochs Roman "Demut": Zeit der Monster

Was die Geschichtsbücher verschweigen: Szczepan Twardochs rasanter Roman „Demut“ über einen gesellschaftlichen Aufsteiger Anfang des 20. Jahrhunderts.

Europäische Literatur ist das Programm des polnischen Schriftstellers Szczepan Twardoch. Er erzählt in seinen Romanen von den großen Krisen des Kontinents in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Fünf Romane gibt es von dem 1979 geborenen Polen bereits in den brillanten Übersetzungen von Olaf Kühl.

Sie spielen im Ersten und Zweiten Weltkrieg, in Warschau und in dessen Ghetto, in Berlin und immer wieder in Schlesien, der Heimat des Autors und einer jener Orte, an denen die Umbrüche Europas auf lokaler Ebene kulminierten.

Jene Kriege, Verbrechen und Revolten, deren Ausgänge in der Rückschau zwangsläufig erscheinen mögen, folgen in Twardochs komplexen Geschichten noch keiner Logik. Ein Schwindel ergreift seine Protagonisten, sie sind haltlos, verloren in einem Kampf der Gesinnungen. Die erste Grenze, die verschoben wird, ist keine politische, sondern eine körperliche.

Die Welt rückt den Figuren auf den Leib, bedrängt, penetriert sie, wühlt in ihren Eingeweiden. Ob Preuße oder Kaisertreuer, Faschist oder schlesischer Separatist, polnischer Patriot oder Jude – immer geht es um jemand, der zum Täter oder zum Opfer für etwas taugt. Dieses Etwas ist der eigentliche Akteur in Twardochs Büchern. Die Figuren können sich dagegen nicht wehren. Sie dürfen sich höchstens entscheiden, ob sie sich der einen oder anderen Sache ergeben.

"Eine Welt ist gestorben, die andere noch nicht geboren"

So auch in Twardochs neuem Roman „Demut“, der Geschichte des Alois Pokora. (Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Rowohlt Berlin, Berlin2022 464 Seiten, 25 €.)

Der Vater, ein schlesischer Bergmann, drückt seinen Hass gegen die Welt dadurch aus, immer mehr Kinder zu zeugen. Auf Alois wartet dasselbe Schicksal: Arbeit in der Grube, Armut, Staublunge, früher Tod. Doch dann fördert der Dorfpfarrer ihn, schickt ihn aufs Gymnasium. Er studiert, kämpft als preußischer Offizier im Ersten Weltkrieg. Twardoch erzählt zunächst die Geschichte eines gesellschaftlichen Aufstiegs, ohne seinen Protagonisten irgendwo ankommen zu lassen.

In der Schule wird Alois ausgegrenzt und misshandelt, an der Universität fremdelt er mit dem polnischen Nationalismus seiner Kommilitonen. Auch seine anfängliche Begeisterung für den Krieg des Kaisers verliert sich in den Gräueln des Schützengrabens. Lediglich Agnes, die Liebe seines Lebens, bietet ihm eine Heimat, gerade weil sie ihm keinerlei Zuneigung entgegenbringt.

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Er ist ihr hörig, sie hält ihn auf Distanz. Erst in der maximalen Missachtung findet Alois seinen Platz in der Welt. Doch dann ändert sich diese von einem auf den anderen Tag. Als er nach einer Verwundung im Krankenhaus Bethanien aufwacht, ist der Krieg aus und der Kaiser nach Holland geflohen.

„Eine Welt ist gestorben, die andere noch nicht geboren“, heißt es da in Anlehnung an den marxistischen Theoretiker Antonio Gramsci, der im Originalzitat folgert: „Dies ist die Zeit der Monster!“ Jene Monster treten nun auf der Straße gegeneinander an, Kommunisten liefern sich Häuserkämpfe mit Freikorps und regierungstreuen Matrosen. Mittendrin Alois, der sich dem Spartakusbund anschließt, mit Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht diskutiert, das Stadtschloss gegen die Konterrevolution verteidigt und beinahe hingerichtet wird.

Temporeich erzählt Twardoch von einer Gesellschaft, die noch nicht wusste, wohin sie steuert, von jener kurzen Zeitspanne, in der alles möglich war. Er erliegt in diesem Teil des Romans aber auch der Versuchung, eben alles erzählen zu wollen, auch die sexuelle Revolution. Alois' Anführer im Spartakusbund ist ein transsexueller ehemaliger Hauptmann, mit dem er über die Schriften Magnus Hirschfelds plaudert.

Wenn in derselben Szene noch Marlene Dietrich durchs Bild läuft, ist das Gesellschaftsporträt nur noch schwer von Infotainment zu unterscheiden.

Das Politische ist hier nur eine Fliehkraft unter vielen

Umso eindrücklicher gerät die Zeit der Monster immer dann in den Blick, wenn die Ideen von den Figuren Besitz ergreifen. Nichts scheint wichtiger als die Frage, wer man nun sei und wem man sich anschließen müsste, um wahlweise Polen, Deutschland, Oberschlesien oder das Proletariat aus der Asche zu heben.

Alois beteuert, nichts sein zu wollen, nur „anerkannt“ will er werden. Anerkannt wie eine Nation, die auf die Souveränität ihrer Grenzen pocht. Doch in einer sterbenden Welt kann der Einzelne nicht auf Schonung seiner Integrität hoffen. Als Alois in seine Heimat zurückkehrt, findet er sich dort zwischen allen Fronten wieder.

Er versucht zunächst, sich aus der Politik zurückzuhalten, heiratet und richtet sich in einem bürgerlichen Leben ein. Doch dann holt ihn seine größte Schwäche ein. Keine Nation und keine Idee wird sein Opfer fordern – es ist Agnes, die ihn ins Verderben stürzt. Nicht einmal die Liebe bietet einen Ausweg, hier ist sie die gefährlichste Ideologie von allen.

Gerade deshalb sind Twardochs Romane aus historischer Perspektive so aufschlussreich. Sie erzählen von dem, was die Geschichtsbücher höflich verschweigen. Das Politische ist bei ihm nur eine Fliehkraft unter anderen. Drogen, Sex und Liebe sind ihr ebenbürtige Mächte. Für Polen kämpfen oder sich einen Schuss setzen? Ins Bordell gehen oder einen Aufstand anzetteln?

Eine Option ist für die Figuren seiner Romane so naheliegend wie die andere. Twardoch erzählt keine Heldengeschichten, sondern die jener Fußsoldaten der großen Umwälzungen, in deren Schlamm sich unsere Gegenwart festigte.

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