
© picture alliance / dpa/Ben Richards
Zeugnisse einer großen Liebe: Der Briefwechsel von Ludwig Wittgenstein und Ben Richards
So ernsthaft wie seine Denkabenteuer: die Korrespondenz des Philosophen an einen jungen Mediziner
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Ludwig Wittgenstein mag oder mag nicht der bedeutendste Philosoph seiner Zeit gewesen sein, unbestritten ist die Faszination, die er auf Hörer und Leser ausübte. Der Millionärssohn aus Wien, der mit seinem Erbe Rilke und Trakl förderte, nach England übersiedelte, durch ein Büchlein von 75 Seiten, den „Tractatus logico-philosophicus“, das Denken revolutionierte und seine Professur am Trinity College in Cambridge niederlegte, weil er das akademische Leben „lausig“ fand und lieber in einer norwegischen Hütte nachdachte, brachte es früh zu Ruhm als Genie im Verborgenen.
Nach seinem Tod 1951 wurden nicht nur seine Manuskripte, sondern auch seine Person mit Inbrunst und Akribie erforscht. Seit der Briefwechsel mit Ben Richards ans Licht trat und von der Österreichischen Nationalbibliothek erworben wurde, wartete man gespannt auf sein Erscheinen. Nun ist das Buch in der Welt und um es gleich zu sagen: Übersetzung wie Edition sind mustergültig.
Ben Richards, geboren 1924, studierte in Cambridge Medizin, besuchte aber auch die Vorlesungen des bestaunten Outsiders Wittgenstein. Im Herbst 1945 lernt der 35 Jahre ältere Philosoph den Gasthörer kennen und beginnt eine Liebesbeziehung, so bedingungslos, ernsthaft und intensiv wie seine Denkabenteuer.
Unter dem Glanz des Glücks, das er erfährt und in jedem Brief beteuert, rumort allerdings die ständige Furcht, verlassen zu werden. Wittgenstein ist der Abhängige und Übersensible, der Bens Zuneigung braucht, um leben zu können (drei seiner Brüder suizidierten sich). Homosexualität ist in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer noch ein Tabu und kann gnadenlose Ächtung bewirken. Für den katholisch erzogenen Österreicher mit jüdischen Wurzeln ist jedoch der selbstgesetzte moralische Kompass am wichtigsten. Inwieweit dieser Sex gestattet, bleibt ein Geheimnis.
Es dominiert der Ernst. Eine oft wiederholte Beschwörungsformel der Briefe lautet: „Gott segne Dich und bewahre Dich, Deinen Körper und Deine Seele“. Als Ben die Absicht äußert, sich einen Bart stehen zu lassen, gerät der Philosoph in Panik: „Dein Gesicht ist etwas Heiliges für die Person, die Dich liebt“, woraus er das sehr irdische Recht ableitet, Ben den Bart zu verbieten, offenbar mit Erfolg. Die Rollenverteilung ist klar: der Ältere, Klügere, Lebens- und Liebeserfahrene setzt sich durch, muss aber zittern, ob der Jüngere, Vitalere, Schönere ihn nicht einfach verlässt.
Der Briefwechsel dokumentiert das Alltagsleben, vor allem die Schwierigkeit, Termine und Örtlichkeiten zu finden, wo man ein paar unbeschwerte Tage miteinander verbringen kann. Philosophische oder kulturelle Themen berührt er selten, der Ton ist britisch nüchtern. Liebe und Menschlichkeit bleiben das höchste Gut, müssen aber Ehrlichkeit und Offenheit erlauben. Dass Wittgenstein, der rigide Asket, in seinen letzten, von Krankheit beschwerten Jahren ein solches Zusammensein erlebt, ist anrührend.
Die faktenreiche und schön gestaltete Edition dokumentiert die Sympathie des Herausgebers Alfred Schmidt für seinen Autor. Der Leser erhält ein umfassendes Bild. Nach 80 Jahren und allerlei französischen Wirbelstürmen könnte dieses Buch einen Anstoß geben, Wittgenstein erneut zu lesen und zu befragen.
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