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Netrebko bei einem Konzert.

© imago images/CTK Photo/Roman Vondrous via www.imago-images.de

Zu den Protesten gegen Opernstar: Lasst sie doch singen!

Netrebko, eine der größten Sängerinnen unserer Zeit, wird in Berlin als Stellvertreterin zur Verantwortung gezogen, um die eigene Ohnmacht ob des Krieges in der Ukraine zu kaschieren.

Udo Badelt
Ein Kommentar von Udo Badelt

Stand:

Anna Netrebko war eine der größten Sängerinnen unserer Zeit. Daran zu erinnern, ist offenbar nötig. Wie sie dieses unfassbare Silbervolumen ihres Soprans bändigen konnte und jederzeit ganz im Griff hatte, mal den Saal flutete, mal fast in die Unhörbarkeit verschwand, wie sie die Vokale rundetet und sich dabei nie auf ihren Status als Prominente ausruhte, sondern immer auch Darstellerin war, ihren Figuren Leben, Charakter, Glaubhaftigkeit einhauchte, das rechtfertigte in jeder Sekunde den Hype, der um sie gemacht wurde.

Warum schreibe ich in der Vergangenheitsform? Weil es schon eine Weile her ist, dass ich sie gehört habe, es ist nicht mehr so einfach, aus bekannten Gründen. Weil ich schlicht nicht weiß, wie es um ihre Stimme jetzt bestellt ist. Ich wüsste es aber gerne.

Ab Freitag tritt Netrebko als Lady Macbeth an der Berliner Staatsoper auf, zahlreiche Organisationen haben in einem offenen Brief Proteste dagegen angekündigt.

Lasst sie doch singen!

Ich hingegen sage: Lasst sie doch singen, es gibt viele Menschen wie mich, die sie gerne wieder hören möchten, was man schon daran sieht, dass die Aufführungen ausverkauft oder Karten nur noch in den allerhöchsten Preisklassen zu haben sind. Was ändert das denn, sie jetzt auszuladen? Wladimir Putin wird deshalb seinen verbrecherischen Angriffskrieg, der Hunderttausende ins Unglück stürzt, nicht beenden. Er wird nicht mal darüber nachdenken.

Jeder sollte für sich entscheiden

Ja, Anna Netrebko war dem russischen Regime in der Vergangenheit offenbar nahe, hat sich mit Separatistenführern fotografieren lassen und noch 2021 ihren 50. Geburtstag im Kreml gefeiert. Man kann und soll ihr vorwerfen, dass sie sich nach dem Überfall auf die Ukraine bis heute nicht klipp und klar, sondern nur gewunden distanziert hat, dass sie im Westen lebt, die österreichische Staatsbürgerschaft hat und mit Leichtigkeit auch hier eine Karriere aufbauen könnte. Alles richtig.

Künstler und Künstlerinnen sind keine besseren Menschen. Sie sind fehlbar. Richard Wagner war ein übler Antisemit, Richard Strauss hat sich zumindest anfangs vor den Karren der Nazis spannen lassen, Wilhelm Furtwängler fast bis zum Schluss. Jeder sollte für sich entscheiden, wie sehr das seinen Musikgenuss beeinflusst.

Im Grunde geht es hier nicht um Anna Netrebko, sondern um mich. Kann ich es aushalten, sie auftreten zu sehen? Meine Antwort ist: Ja. Natürlich kann ich nicht in ihren Kopf blicken, nur vermuten. Dass sie den Horror des russischen Krieges genauso entsetzlich findet wie ich. Dass sie mit der Situation, in der sie sich befindet, nicht gut umgehen kann, laviert, nicht alle Taue ins Heimatland kappen möchte. Dass sie überfordert ist. Kann ich ertragen.

Boykottaufrufe als Übersprungshandlung

Ich möchte sie als Künstlerin erleben. Die Boykottaufrufe wirken auf mich wie eine Übersprungshandlung: Man kann den eigentlichen Übeltäter nicht zur Verantwortung ziehen, also drischt man auf eine (angenommene) Stellvertreterin ein, um die eigene Ohnmacht zu lindern.

Es gibt das zwar lange, aber schöne deutsche Wort Ermessensspielraum. Im Fall von Valery Gergiev, der als Leiter des Petersburger Mariinski-Theaters fest ins Putins Herrschaftssystem eingewoben ist und zu Recht alle Engagements im Westen verloren hat, wäre auch meine rote Linie überschritten. Aber bei Anna Netrebko liegen die Dinge nicht so eindeutig. Ich bin froh, sie wieder hören zu können.

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