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Der gebürtige Berliner Klaus Wagenbach hat über Franz Kafka promoviert. Sabine Schüssler, seine dritte Frau, leitet den Verlag seit 2002.

© Thilo Rückeis

Zum 90. Geburtstag des Verlegers: Klaus Wagenbach lässt Poesie und Politik zusammenklingen

Er verkörpert Geschichtsbewusstsein und Hedonismus. Der ewig unabhängige Berliner Verleger feiert seinen 90. Geburtstag.

Es muss bei der Frankfurter Buchmesse 1975 gewesen sein. Damals stellte mich der Hanser-Lektor und spätere Verleger Michael Krüger seinem Freund Klaus Wagenbach vor, in dessen Berliner Verlag er mit KW zusammen den heute legendären „Tintenfisch“ als broschiertes „Jahrbuch für Literatur“ herausgab.

Krüger hatte einige Gedichte von mir für den „Tintenfisch“ weitergeleitet, und der Verleger begrüßte mich mit seiner immer leicht heiter heiseren Stimme und jenem Lächeln, das wagenbachtypisch Freundlichkeit und Ironie, Nähe und einen Rest gewitzter Distanz zugleich ausdrückt: „Ach so, da ist ja der junge Bestsellerpoet!“

Wie bitte? Verblüffung, Verwirrung. „Na“, fuhr Klaus Wagenbach fort, der einen sofort duzte, „wir haben ein Gedicht von dir auf dem Titel der neuen ,Zwiebel’ gedruckt.“ Diese „Zwiebel“ warb als Gratisheft für neue Wagenbach-Bücher, und einer meiner Texte begann mit den Versen „Wer möchte nicht / eine Zwiebel sein / sieben Häute haben...“ für mehr als ein Lebensspiel. KW: „Hunderttausend Exemplare, so eine Auflage wirst du als Lyriker nie wieder kriegen!“ Er hat natürlich recht behalten.

Unabhängiger Verlag für wilde Leser

Das war vor 45 Jahren, als Klaus Wagenbach noch halb so alt und schon fast so weise wie heute war. Im Untertitel nennt sich sein nahe dem Wilmersdorfer Ludwigkirchplatz in zwei Büroetagen logierendes Unternehmen „Der unabhängige Verlag für wilde Leser“. Die beiden Attribute stehen kursiv, Leser sind auch Leserinnen, und über den wie immer feuerroten Umschlag des kommenden Herbstprogramms schleicht ein Wolf, mit dem Motto „Noch immer keine Kreide gefressen“.

Natürlich werden nun wieder einige italienische Titel hervorgehoben, die Entdeckung der jungen römischen Romanschriftstellerin Giulia Camineto oder ein Bändchen über „Spaghetti al pomodoro“ („Kurze Geschichte eines Mythos“); dazu Belletristisches aus Frankreich, Spanien, Holland, Kanada, Deutschland, Kultur und Politik in einem Band über „Zeugnisse der Kolonialgeschichte“ – und aus dem Corona-Frühling nachgezogen Bücher wie „Die Hängenden Gärten von Babylon“ oder „Volksaufstand & Katzenjammer“, eine Betrachtung zur Geschichte des Populismus.

Dienstälteste lebende Witwe Kafkas

Der gebürtige Berliner Klaus Wagenbach hat Literatur und Kunstgeschichte studiert, über Franz Kafka promoviert und sich als dessen dienstälteste lebende Witwe bezeichnet; er hat als Lektor im Frankfurter S. Fischer Verlag das Metier von Grund auf gelernt. Doch Jahrzehnte lang galt sein 1964 in West-Berlin gegründeter Verlag vor allem als links und radikal.

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Zu seinen Autoren gehörten auch Rudi Dutschke oder Ulrike Meinhof (mit ihrem Stück „Bambule“), und ein Manifest der RAF hat Wagenbach als zeitgeschichtliches Dokument veröffentlicht.

Als Beitrag zur Meinungsfreiheit, für die er, der die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg von Anfang an als „Mord“ bezeichnete, oft genug vor Gericht erscheinen musste und zu Geld- und Bewährungsstrafen verurteilt wurde. Freilich, der unbeugsame Verleger KW hat, zeittypische Irrtümer eingeschlossen, selbst da, wo er nicht Recht bekam, doch meist recht behalten.

Er hat Biermann und Pasolini publiziert

Zu einer großen Figur und sein Unternehmen zum größten denkbaren Kleinverlag wurde Wagenbach durch das in Wahrheit weitgespannte, von politischer Leidenschaft beflügelte, aber nicht ideologisch verengte Programm. Dabei gilt bis heute die Maxime des epochalen Büchermachers (und frühen Kafka-Verlegers) Kurt Wolff: Texte publizieren, „von denen man meint, die Leute sollen sie lesen“, statt nur dem „geschmacksdienerisch nachzulaufen“, von dem man glaubt, sie „wollen sie lesen“.

Wie mit seinem ersten Satz bei unserer geschilderten ersten Begegnung kann Wagenbach auf Anhieb auch ein Verführer sein. Hat Menschen, Leser, Autoren am eigenen Haken. So lässt er das Poetische und das Politische zusammenklingen, hat Wolf Biermanns „Drahtharfe“ verlegt und Pasolinis „Freibeuterschriften“, hat Luigi Malerba oder Andrea Camilleri für Deutschland entdeckt, Djuna Barnes’ „Ladies Almanach“ publiziert und Peter Burkes „Anderes Bild der Renaissance“.

Wie man mit Lyrik tatsächlich sechsstellige Auflagen erzielt, demonstrierte Wagenbach gar mit Erich Frieds Gedichten. Seinem Vorbild Kurt Wolff ist KW nicht nur in der Liebe zu Italien gefolgt, wo er mit seiner Frau und Mitverlegerin Susanne Schüssler im toskanischen Dörfchen Montefollonico ein schönes altes Landhaus besitzt.

Gutes Essen, schöne Autos und rote Socken

Er hat wie Wolff auch die Kunstgeschichte zu einer Perle des Programms gemacht: gipfelnd in der 45-bändigen ersten deutschen Gesamtausgabe der Künstlerbiografien des Renaissancemalers und Autors Giorgio Vasari. Als 1972 der Mailänder Verleger-Freund Giangiacomo Feltrinelli unter nie ganz geklärten Umständen bei einer Explosion stirbt, hält Wagenbach die Grabrede. 2010, zu seinem 80. Geburtstag, schreibt ihm dann Inge Feltrinelli, Giangiacomos Witwe und Nachfolgerin, als Gruß in der „Zeit“: „Klaus hat immer noch seine Ideale: Anarchie, Geschichtsbewusstsein und Hedonismus!

Beim Hedonismus bin ich mir nicht so sicher: Er liebt zwar gute Weine, gutes Essen, schöne Autos, rote Socken, aber ich habe ihn im Vergleich zu vielen anderen Verlegern immer redlich, unbestechlich, preußisch erlebt.

Natürlich ist er auch, wie er selbst sagt, ,listig und frei!’ und hat mit gutem Instinkt seine Frau Susanne zu seiner Nachfolgerin bestimmt und seiner Tochter Nina den Vertrieb übergeben. Er folgt ihren neuen Ideen mit leicht amüsierter Distanz und wundert sich, dass es dem Verlag auch ohne ihn gut geht.“ Möge es so bleiben. Tanti auguri!, rufen nicht nur die Italiener heute, zu seinem unglaublichen 90.

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