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Günther Rühle

© picture-alliance/ dpa

Zum Tod von Günther Rühle: Er schrieb Theatergeschichte

Großkritiker, Theaterintendant und Feuilletonchef: Günther Rühle glänzte in vielen Rollen. Nun ist er mit 97 Jahren gestorben. Ein Nachruf.

Am Ende seines langen Lebens hat der epochale Publizist und Theatermann Günther Rühle mit bereits verlöschendem Augenlicht noch einmal ein, wie er es nannte, „merkwürdiges Tagebuch“ verfasst. Eine Beschreibung des eigenen körperlichen Zerfalls bei scharfem Verstand.

Ein letztes Leuchtzeichen. Traurig, doch dank seiner sprachlichen, geistigen Präsenz auch sonderbar tröstlich. Mit dem wunderbaren Buchtitel „Ein alter Mann wird älter“.

Schönstes Medium der Welterkenntnis

Die Welt war für diesen Mann zuallererst Theater, und das Theater das schönste Medium der Welterkenntnis. Manche Theaterkritiker sehen freilich immer nur, was auf der Bühne geschieht. Günther Rühle jedoch wollte tiefer blicken und höher ausgreifen. Er war als Kritiker und Kulturhistoriker auch ein auf die Hintergründe von Dramen und Dramatikern, von ihren Stücken und Stoffen, von Regisseuren, Schauspielern und Schauspielerinnen drängender, so analytischer wie zugleich leidenschaftlicher Liebhaber.

Deswegen hielt es ihn nicht im Parkett. Als langjähriger Theaterbeobachter und schließlich Feuilletonchef der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ wechselte er tatsächlich die Seiten und wurde zur Überraschung mancher seiner Kollegen Intendant des Schauspiels Frankfurt.

Tausende Menschen demonstrierten vorm Theater

In dieser Rolle, von 1985 bis 1990, blieb er dann nicht im Hintergrund – und blickte sogar jäh in den Abgrund. Günther Rühle hatte in seinem ersten Frankfurter Theaterherbst die Uraufführung von Rainer Werner Fassbinders bereits zehn Jahre zuvor geschriebenem und zunächst von Daniel Schmid (unter dem Titel „Schatten der Engel“) erfolgreich verfilmten Stück „Die Stadt, der Müll und der Tod“ angesetzt. Am 31. Oktober 1985, dem Abend der geplanten Premiere, protestierten jedoch tausend Menschen vor dem Theatereingang gegen die angeblich antisemitischen Tendenzen des Dramas.

Fassbinders teils kruder, teils postexpressionistischer Spuk evozierte zwischen lebenden Leichen, deutschen Dämonen, Geisterreitern, Huren, Altnazis, Spekulanten, Strichjungen auch die Figur eines „Reichen Juden“. Sie war die Projektion realer und heute, im 21. Jahrhundert, wieder virulent gewordener antisemitischer Vorurteile.

Daniel Cohn-Bendit wollte schlichten

Doch dieses Spiel mit dem Zerrspiegel erschreckte etliche Holocaust-Überlebende der Jüdischen Gemeinde von Frankfurt so sehr, dass sie damals die Bühne besetzten und zu Beginn der Aufführung ein Plakat mit der Warnschrift „Subventionierter Antisemitismus“ ausrollten. Der Protest der Betroffenen führte trotz Schlichtungsversuchen durch Dany Cohn-Bendit, der sich im Publikum kunst- und moralbewusst als Anwalt beider Seiten gerierte, zum Abbruch. Die im Kern eher harmlose Inszenierung wurde dann einen Tag später nur noch vor ausgewählten Kritikern gezeigt.

Rühle wirkte an dem dramatischen Abend trotz oder wegen seiner eigenen Erregung zugleich wie paralysiert. Er war damals in der FAZ, seiner eben noch eigenen Zeitung, schon vor der Fassbinder-Premiere wie ein Vorschubleister des Antisemitismus angeprangert worden.

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Sein eben noch Herausgeber Joachim Fest stellte ihn in der Zeitung gar als „Theatromanen“ und „enthemmten Studienrat“ dar. Das klang wie: Professor Unrat. Und kam aus der Feder von Fest, der in seiner 1200 Seiten dicken „Hitler“-Biografie dem millionenfachen Mord an den Juden ganze vier Seiten gewidmet hatte.

Diese Wunde ist in Rühles Seele wohl erst zwölf Jahre später wieder geschlossen worden. In der FAZ und im Fernsehen war es 1997 Marcel Reich-Ranicki, der die von Günther Rühle in polnischen Archiven entdeckten, bis dahin vergessenen oder unbekannten „Briefe aus der Reichshauptstadt“ von Alfred Kerr als Sensation und bedeutendstes feuilletonistisch-essayistischstes Dokument einer Jahrhundertwende rühmte.

Der als Jude und Demokrat von den Nazis später ins Exil getriebene Theaterkritiker und  Schriftsteller Alfred Kerr war mit seinen 1895-1900 für die „Breslauer Zeitung“ verfassten „Briefen“ aus Berlin dank des Herausgebers und brillanten Kommentators Rühle ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod so noch einmal zum Bestsellerautor geworden.

Verdienste um die Werke Kerrs 

Nicht zuletzt wegen seiner Verdienste um die Werke Kerrs und manch anderer Geister vor allem der Weimarer Republik, gewiss auch für seine Wiederentdeckung Marieluise Fleißers, der Brecht-Zeitgenossin und lange vergessenen Dramatikerin, hat Rühle etliche Auszeichnungen erhalten, angefangen mit dem Theodor-Wolff-Preis.

Die für ihn vielleicht wichtigste war allerdings 2013 die Rahel-Varnhagen-von-Ense-Medaille. Kaum mehr glaublich, dass der im Berliner Mendelssohn-Haus in einer bewegenden Feier Gespriesene je in die Nähe von rassistischen Vorurteilen gerückt worden war. Aber hoppla!

Ein Bürger, kein Revoluzzer

„Hoppla, wir leben“ hieß Ernst Tollers expressionistisch-revolutionäres Zeitstück, mit dem Erwin Piscator 1927 sein berühmtes Theater am Berliner Nollendorfplatz eröffnet hatte. Drei Jahre zuvor kam Günther Rühle in Gießen zur Welt, als Sohn eines Wirtschaftsprüfers, als Nachfahre eines preußischen Generals und Freundes von Heinrich von Kleist. Ein Bürger, kein Revoluzzer, in den 1960er Jahren erst Theaterkritiker der FAZ und von 1974 bis ’85 ihr Feuilletonchef.

Dass es auf den Kulturseiten der (damals noch konservativeren) FAZ oft gärte, lag auch an Rühles geistiger Hefe. Der klein gewachsene Mann, promovierter Germanist, schien im Gespräch, in Debatten, bei öffentlichen Reden sofort zu wachsen. Er hatte, leicht geröteten Gesichts und mit gehobener Stimme, so immer Statur. Sprach meist frei und druckreif. Machte Eindruck. Meinte es ernst – obwohl er mit kurzen Bemerkungen von wunderbar hintergründigem Humor sein konnte. Ein Feuerkopf noch bis ins hohe Alter, selbst den Neunzigjährigen glaubte man ihm lange nicht.

Er entdeckt Schauspieler wie Wuttke und Thieme

Als Intendant des Frankfurter Theaters ist er nach den Auseinandersetzungen um Fassbinder durchaus noch reüssiert, hatte Schauspieler wie Martin Wuttke und Thomas Thieme entdeckt und den Regisseur und Dichter Einar Schleef entscheidend gefördert.

Doch nach fünf Jahren kehrte er Anfang der1990er wieder zurück zur Publizistik, leitete ab 1990 einige Jahre das Feuilleton des Tagesspiegels und half das West-Berliner Traditionsblatt weiter zu öffnen, gen Osten und Süden, ins gesamtdeutsch Überregionale. Als Anreger und geistiges Temperament.

Da freilich lag sein Mammut-Oeuvre noch vor ihm.  2007 erschien im S. Fischer Verlag der erste Band seiner Bühnengeschichte: „Theater in Deutschland 1887-1945" (Untertitel: „Seine Ereignisse – seine Menschen“). Das waren 1283 Textseiten, ohne eine einzige Abbildung!

Er war ein glühender Journalist

Und dennoch ist darin ein gewaltiges, lebendiges Bild des deutschen und deutschsprachigen Schauspiels entstanden, wie es derart kein zweites gibt. Der sodann auf 1519 Seiten angewachsene Fortsetzungsband endete freilich 1966. Also anderthalbtausend Seiten für gerade 21 Jahre, hoppla! Günther Rühle indes hatte so viel im jederzeit geistesgegenwärtigen Kopf, dass es für mehr als eine einzige Person (und Persönlichkeit) reichte.

Er war ein glühender Journalist und zugleich ein sprühender Historiker. Ein Mann des Tages – und der Epochen. Würde der Theaterkritiker „g.r.“ (das war zu Zeitungszeiten sein Kürzel, oft auch unter Dreihundertzeilern) noch viel näher ans Heute heranschreiben? Tatsächlich sind weitere 1000 Seiten in Arbeit gewesen.

Durch den Gefühlswolf gedreht

Mit dem lange noch scharfen, aber zunehmend trauernden oder erzürnten Blick auf ein Theater der Dekonstrukteure, das poetische Dramentexte immer weniger schätzte und Literatur gerne durch den Gefühlswolf der jeweils eigenen, meist kleineren Befindlichkeit dreht. Doch das Finale seiner epochalen Theatergeschichte konnte Rühle, den zuletzt der Verlust seines Augenlichts quälte, nicht mehr vollenden. Dennoch wird das Werk, ediert von dem Dramaturgen Hermann Beil und Stephan Dörschel von der Berliner Akademie der Künste, im Frühjahr 2022 als großes Fragment erscheinen.

Zu diesem dritten Band meinte der Kritiker als Historiker einmal gesprächsweise: „Im ganz Gegenwärtigen wird’s doch uferlos, und jeder glaubt, der Besserwisser zu sein.“ Nun ist Günther Rühle, am 10. Dezember 2021, mit 97 Jahren in seinem Haus in Bad Soden bei Frankfurt am Main gestorben. Und keiner aus seiner Zunft wird mehr ein Besserwisser sein.

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