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Massen-Proteste in Serbien halten an: „Es gibt Demonstrationen in den allerkleinsten Dörfern“
Seit mehr als drei Monaten gibt es Proteste gegen die serbische Regierung und Präsident Vučić. Wohin steuert das Land – und was könnte das für Europa bedeuten?
Stand:
Serbien ist dieser Tage ein Land im Aufruhr. Die Jugend begehrt auf, Studenten besetzen ihre Hochschulen.
„Manche von uns übernachten seit Monaten im Gebäude der Uni“, erzählt Doroteja Antić, eine Studentin aus Novi Sad. „Einige waren zwischendurch vielleicht zweimal zu Hause.“
Warum halten die Demonstranten an ihrem Widerstand fest?
Die Entschlossenheit hat ihren Grund. Im vergangenen November stürzte das Bahnhofsvordach in Antićs Heimatstadt Novi Sad herab und riss 15 Menschen in den Tod. Erst wenige Monate zuvor war der Bahnhof nach aufwendigen Renovierungsarbeiten wiedereröffnet worden.
Auf die anfängliche Trauer über das Unglück folgte unbändige Wut. In Novi Sad gingen die Menschen auf die Straße. Sie verlangten Antworten auf die Frage, wie ein neu eröffneter Bahnhof zur Todesfalle hatte werden können.
Während der autokratisch regierende Präsident Aleksandar Vučić die Aufklärung verschleppte, wurden die Proteste immer lauter.
Nach und nach weiteten sie sich auf das ganze Land aus, getragen von Studierenden, die der grassierenden Korruption in Serbien die Schuld am Zusammenbruch des Bahnhofsdachs geben.
Widerstand im ganzen Land
Seit mehr als drei Monaten halten die Demonstrationen an. Universitäten und Schulen werden besetzt, ganze Berufszweige streiken.
Im Dezember demonstrierten in der Hauptstadt Belgrad mehr als 100.000 Menschen. Es war der größte Protest in Serbien seit dem Sturz des ehemaligen Präsidenten Slobodan Milošević im Jahr 2000.

© AFP/NENAD MIHAJLOVIC
Dabei ist es keineswegs die erste Protestwelle, die den Balkan-Staat in den vergangenen Jahren erfasst hat. Zuletzt regte sich im Sommer heftiger Widerstand gegen den geplanten Lithium-Abbau im serbischen Jadar-Tal. Aktivisten warfen der Regierung vor, den Rechtsstaat zu umgehen, um Profit aus dem Projekt zu schlagen.
Allen Bedenken zum Trotz schloss die EU ein Lithium-Abkommen mit Serbien, um beim Import des zum Beispiel für Elektroautos benötigten Rohstoffs nicht allein von China abhängig zu sein.
Die jüngsten Demonstrationen haben jedoch eine andere Dimension, darin sind sich Beobachter im Land einig. Ende Januar trat der Premierminister zurück, er war offenbar ein Bauernopfer. In letzter Konsequenz könnten die Proteste aber auch Präsident Vučić aus dem Amt fegen.
Das Erfolgsrezept der Studentenproteste
Wieso gelingt den Demonstranten diesmal etwas, woran viele andere Bewegungen in Serbien gescheitert sind? Die Kraft der Proteste hat vermutlich viel mit ihrem Anlass zu tun.
„Wir lernen aus dem Zusammenbruch des Bahnhofsdachs, dass man in Serbien nicht einmal auf die Straße gehen kann, ohne Angst zu haben, dass einem etwas auf den Kopf fällt“, sagt Studentin Antić.

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„Jeder sieht die lebensgefährlichen Folgen der Korruption. Deshalb schließen sich so viele an“, erklärt sie. Antić und einige Mitstreiter organisierten die erste Besetzung an der Universität in Novi Sad. „Das bedeutet aber nicht, dass wir die Proteste leiten“, betont sie.
Man kann in Serbien nicht einmal auf die Straße gehen, ohne Angst zu haben, dass einem etwas auf den Kopf fällt.
Doroteja Antić, Studentin und Aktivistin aus Novi Sad
Tatsächlich sind die Aktivisten weitgehend führungslos. „Junge Menschen tragen die Proteste, und sie organisieren sich selbst“, erklärt Kirsten Schönefeld, Büroleiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Belgrad. Anders als bei früheren Demonstrationswellen sei die politische Opposition nur am Rande beteiligt.
Ebenfalls neu ist, dass nicht nur in den großen Städten protestiert wird. „Es gibt Demonstrationen in den allerkleinsten Dörfern“, berichtet Srdjan Cvijić vom Belgrade Centre for Security Policy. „Die Proteste sind cool und trendy geworden, deshalb ziehen sie fast jeden an.“
Einer Umfrage der serbischen Nichtregierungsorganisation CRTA zufolge unterstützen 61 Prozent der Serben die Proteste.
Es geht jedoch ein Riss durch das Land, viele ältere Menschen stehen weiter hinter Vučić. Ob seine Unterstützung aber noch groß genug ist, um an der Macht zu bleiben, weiß niemand.
Wie könnte es weitergehen?
Bisher versuchte die Regierung nicht systematisch, der Proteste gewaltsam Herr zu werden. Stattdessen lässt Vučić seine Kritiker überwachen.
Sollte er den Befehl geben, die Proteste niederzuschlagen, erwartet Sicherheitsforscher Cvijić Widerstand in den Reihen der Polizei. Jeder Angriff auf Demonstranten sorge für „extreme Wut und massive Mobilisierung“.
Eine Kernforderung der Aktivisten ist die Einsetzung einer technischen Übergangsregierung. Sie soll die Voraussetzungen für freie und faire Wahlen schaffen.
Es gibt keine Rückkehr mehr zum Status Quo vor November.
Srdjan Cvijić, Belgrade Centre for Security Policy
Neuwahlen unter den aktuellen Bedingungen lehnen die Demonstranten ebenso wie große Teile der Opposition ab, „weil alle Institutionen von Vučićs Partei durchsetzt sind“, erklärt Cvijić. „Es gibt keine Rückkehr mehr zum Status Quo vor November“, betont er. Aussitzen könne Vučić die Proteste diesmal nicht, dafür reichten sie zu weit.
Deutschland droht ein böses Erwachen
Sollte der Autokrat stürzen, wäre völlig unklar, wie eine neue Regierung aussehen könnte. Klar scheint, dass das umstrittene Lithium-Abkommen mit der EU scheitern dürfte.
„Politisch ist es sehr schwierig geworden, den Lithium-Abbau umzusetzen“, erklärt Schönefeld von der Friedrich-Ebert-Stiftung. „Die Oppositionsparteien haben sich dagegen positioniert.“
Für die EU und Deutschlands Autoindustrie wäre es ein herber Verlust – aus der Sicht vieler Serben hingegen ein Erfolg. Europa müsste dann den Preis dafür zahlen, dass Serbiens Rechtsstaatlichkeit erhalten bleibt.
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