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Der amerikanische Regisseur Spike Lee erhält den Großen Preis der Jury für seine Komödie „BlacKkKlansman“.

© Eric Gaillard/Reuters

Cannes 2018 - eine Bilanz: Schatten über der Croisette

Cannes vergibt die Palmen: Auch in diesem Jahr gewinnt wieder ein Regisseur, MeToo ist das dominierende Thema - und niemand vermisst Netflix. Die Bilanz des Festivals.

Von Andreas Busche

Es ging turbulent zu wie lange nicht mehr in Cannes, wo man sich abends in den Restaurants entlang der Croisette eigentlich am liebsten über den Stand der Filmkunst unterhält. Das war 2018 nahezu unmöglich, nie zuvor stand Festival-Leiter Thierry Frémaux unter solcher Kritik wie in diesem Jahr. Netflix, der Selfie-Bann am roten Teppich, MeToo sowie die ambivalente Geschichte von Harvey Weinstein und Cannes, dem Ort seiner größten Triumphe – und sein bevorzugtes Jagdrevier.

Dass Weinstein-Opfer Asia Argento als Laudatorin eingeladen worden war, muss man wohl auch als Zeichen eines schlechten Gewissens verstehen. Und Argento lässt nicht locker. Als sie zusammen mit Ava DuVernay den Preis für die beste Darstellerin an Samal Yeslyamova für ihre Rolle in Sergei Dvortsevoys Sozialdrama „Ayka“ überreicht, erinnert Argento die Gala-Gäste noch einmal an deren Komplizenschaft: „1997 wurde ich in Cannes von Harvey Weinstein vergewaltigt. Aber immer noch sitzen hier Menschen, die für ihr Verhalten gegenüber Frauen zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Ihr wisst, wer Ihr seid.“

Auch in diesem Jahr setzt sich eine Cannes-Tradition fort

Argentos mahnende Worte sind auch ein Signal, dass sich in Cannes tatsächlich etwas ändern muss. Die Jury um Cate Blanchett versäumt es in diesem Jahr jedoch, einen Umbruch einzuleiten. Blanchett hatte bereits während der Jury-Pressekonferenz betont, dass man die Filme ausschließlich auf der Basis künstlerischer Kriterien auszeichnen würde, unabhängig vom Geschlecht. Eigentlich geht die Goldene Palme für Hirokazu Kore-edas Sozialdrama „Shoplifters“ auch völlig in Ordnung. Mit gewohnt feinem Strich zeichnet der japanische Regie-Veteran das berührende Porträt einer Mehrgenerationenfamilie, die sich mit Ladendiebstählen, Sexcam-Jobs im Internet und der Rente der Schwiegermutter über Wasser hält. Doch als sie auch noch die obdachlose Juri bei sich aufnehmen, droht das fragile Konstrukt zu zerbrechen, denn die Familie umgibt ein Geheimnis.

Leider nur setzt sich mit dieser Auszeichnung die unselige Cannes-Tradition fort, Regisseurinnen bei der Verleihung der Goldenen Palme zu übergehen. Die Auswahl war dieses Jahr – zugegeben – nicht überwältigend. Eva Hussons „Girls Of The Sun“ über ein jesidisches Frauen-Bataillon im Kampf gegen den IS und „Capharnaüm“ der libanesischen Regisseurin Nadine Labaki über den zehnjährige Zain (Zain Alrafeea), der seine Eltern vor Gericht anklagt, ihn auf die Welt gebracht zu haben, leiden trotz bester Absichten unter dramaturgischen Schwächen und einer konventionellen Inszenierung.

Alice Rohrwacher ist die Einzige, die mit ihrem sozialrealistischen Märchen „Happy as Lazzaro“ eine unverkennbare Handschrift beweist – und der es zudem gelingt, die unterschiedlichen Tonalitäten des Films in Einklang zu bringen. Rohrwachers Hauptfigur (Adriano Tardolio), ein moderner Lazarus, fungiert im Film als unterbelichtet-erleuchteter Tor, der einem Ensemble von schillernden Charakteren (unter anderem Alba Rohrwacher und Sergi López) an der Peripherie der italienischen Gesellschaft einen Ausweg aus ihrer unverschuldeten Unfreiheit weist. Wie die Regisseurin, die bereits 2014 mit dem Preis der Jury ausgezeichnet worden ist, die soziale Grundierung ihrer Geschichte mit Elementen eines magischen Realismus und der burlesken Komödie verwebt, besitzt eine einzigartige Poesie, die dennoch nie dazu verleitet, das Klassendrama zu romantisieren.

Alice Rohrwacher erhält für ihren Film „Happy as Lazzaro“ den Drehbuch-Preis.
Alice Rohrwacher erhält für ihren Film „Happy as Lazzaro“ den Drehbuch-Preis.

© Cannes Festival

Rohrwacher erhält dafür wenigstens den Drehbuch-Preis, den sie sich mit Jafar Panahi und Nader Saeivar für den iranischen Beitrag „Three Faces“ teilt. Der Preis der Jury geht an „Capharnaüm“. Dass Spike Lee mit seiner Komödie „BlacKkKlansman“ den Großen Preis der Jury bekommt, ist – auch wenn der Film nicht vollkommen zu überzeugen weiß – vielleicht die beste Geschichte am Rande. Lee hat es Wim Wenders bis heute nicht verziehen, dass 1989 die Jury unter seinem Vorsitz Steven Soderberghs „Sex, Lügen und Video“ mit der Goldenen Palme honorierte – und nicht „Do The Right Thing“. „BlacKkKlansman“, die wahre Geschichte eines schwarzen Polizisten, der in den siebziger Jahren undercover gegen den Ku Klux Klan ermittelt, ist solides Mainstreamkino mit einer, angesichts der Bilder von Charlottesville, wichtigen politischen Botschaft. Vielleicht also gerade recht für eine Jury, die in diesem Jahr mit Blanchett, DuVernay, Denis Villeneuve und Kristen Stewart sehr Hollywood-lastig besetzt war.

Insgesamt ist 2018 ein starker Jahrgang, jedoch ohne wirkliche Überfilme, die sich auch mal aus der Deckung wagen und eine Fallhöhe anvisieren – wie im vergangenen Jahr Ruben Östlunds „The Square“. Trotz einiger Neulinge wie dem polnischen Oscar-Preisträger Pawel Pawlikowski, der die Regie-Palme gewinnt, dem unter Hausarrest stehenden Kirill Serebrennikow und dem ägyptischen Regisseur Abu Bakr Shawky hält Cannes weiter etablierten Autorenfilmern die Treue. Bezeichnend hierfür ist die Rückkehr des 2011 zur Persona non grata erklärten Lars von Trier, dessen heftiger, stellenweise sadistischer Serialkiller-Film „The House That Jack Built“ das Publikum in Scharen aus dem Kino treibt. Doch vielleicht ist dieser radikale Gestus genau das richtige Gegenmittel für das mitunter selbstgenügsame Autorenkino, das Cannes so gern beschwört. Von Trier kokettiert natürlich mit dem Nimbus des genialen Enfant terribles, aber er nimmt sein Image wenigstens nicht todernst.

Ebenfalls selbstironisch gibt sich Jafar Panahi, der in den nunmehr sieben Jahren seines Berufsverbots zu Höchstform aufläuft. Er stellt mit „Three Faces“ seinen künstlerischen Status allerdings in den Dienst einer guten Sache. Panahi erweist sich als hochgradig erfinderisch mit seinen eingeschränkten Mitteln. In Begleitung der bekannten iranischen Schauspielerin Behnaz Jafari verlässt er erstmals die Stadt, um in der Provinz ein verschwundenes Mädchen ausfindig zu machen, das aus noch viel existenzielleren Gründen als er selbst am repressiven Regime im Iran leidet.

Der chinesische Regisseur Jia Zhang-ke geht mit seinem melodramatischen Gangsterepos "Ash is the Purest White" leider leer aus.
Der chinesische Regisseur Jia Zhang-ke geht mit seinem melodramatischen Gangsterepos "Ash is the Purest White" leider leer aus.

© Cannes Festival

Der politische Einschlag von Panahis Film ist charakteristisch für den diesjährigen Wettbewerb, die Formen unterscheiden sich jedoch gravierend. Jia Zhang-ke etwa zieht sich mit „Ash is the Purest White“ auf den melodramatischen Gangsterfilm zurück. Sein Gesellschaftsporträt zeichnet anhand der sich über 18 Jahre spannenden Liebesgeschichte zwischen dem Kleinkriminellen Bin und seiner Freundin Qiao (Zhao Tao) ein desolates Bild vom Wandel Chinas zu einer rücksichtslosen Wirtschaftsmacht.

Netflix schnappt sich die Rechte an einem Palmen-Gewinner

Als Totalausfall stellt sich dagegen die Reihe „Un certain regard“ heraus, trotz Ulrich Köhlers gewitzter Endzeit-Parabel „In my Room“, die leer ausgeht. Den Hauptpreis gewinnt verdientermaßen der schwedische Beitrag „Gräns“ von Ali Abbasi. Die Komödie über eine Zollbeamtin mit einem Chromosomenfehler – und einem untrüglichen Geruchssinn – entwickelte sich zum Geheimtipp. Abbasi gelingt, was man dieses Jahr oft vermisste: ein fintenreiches Spiel mit Genres und das Selbstbewusstsein, eine fantastische Liebesgeschichte ungebrochen ernsthaft zu erzählen.

Pikanterweise vermeldete das Branchenblatt Variety zum Ende des Festivals, dass sich ausgerechnet Netflix die Rechte an „Happy as Lazzaro“ gesichert hat – wodurch möglicherweise die Diskussionen um den an der Croisette so ungeliebten Streamingdienst erneut entfacht werden könnten. Während der zwölf Tage war es erstaunlich ruhig geblieben, dem Vernehmen nach haben einige Rechteinhaber sogar Verhandlungen mit Netflix abgelehnt. Ob Thierry Frémaux sich noch einmal mit Netflix-Chef Reed Hastings an einen Tisch setzt, um einen Kompromiss auszuhandeln, steht zu bezweifeln, solange die mächtigen französischen Verleiher ihre harte Linie durchziehen. Die sich wandelnde Kinolandschaft ist eine Herausforderung, der sich Filmfestivals in Zukunft ernsthaft stellen müssen. Cannes hat das Problem mit dem Netflix-Ausschluss in diesem Jahr nur ausgesessen.

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