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Ein Boot im Mittelmeer: Niemand steigt hier ohne Gründe ein, glaubt die Autorin

© Imago/Hotspot-Foto/Rene Traut/Johannes Moths

Konservative wollen Asylrecht ändern: Der Zynismus und die Geschichtsvergessenheit der CDU sind atemberaubend

Teile der CDU fordern, das Grundrecht auf individuelles Asyl abzuschaffen. Das ist ungeheuerlich, denn es wurde auch als Reaktion auf die Gräuel der Nazis erdacht. Der Vorstoß zeigt die tiefe Krise der Union.

Ein Kommentar von Valerie Höhne

Man müsse „die Dinge auch so tief sehen, dass sie einfach sind“ hat Konrad Adenauer einmal gesagt. „Wenn man nur an der Oberfläche der Dinge bleibt, sind sie nicht einfach; aber wenn man in die Tiefe sieht, dann sieht man das Wirkliche, und das ist immer einfach.“

Im Sommer 2023 ist das die Diskussion über die Flüchtlinge, die auf dem Weg nach Europa zu Tausenden im Mittelmeer ertrinken, darunter laut Unicef mindestens 289 Kinder: Sie ist auf der Oberfläche kompliziert. Es geht um Fragen, die vermeintlich klein sind, wie die Aufnahmekapazitäten von Dörfern in Deutschland. Darum, wie man Rechtspopulisten den Nährboden entzieht, auf dem sie in diesen Tagen Hass und Hetze züchten.

Und es geht um große Fragen: Welche Werte will die Europäische Union verteidigen? Anders als andere, ist diese in der Tiefe einfach zu beantworten. Nimmt man die Forderung des Ersten Parlamentarischen Geschäftsführers der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Thorsten Frei, ernst, der das Individualrecht auf Asyl laut seinem Gastbeitrag in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ abschaffen will, muss man feststellen: Es werden keine Werte verteidigt.

Ein Deckmantel der Humanität

Frei versucht diese Forderung in einen Deckmantel der Humanität zu hüllen. Schließlich treffe das Asylrecht, so wie es derzeit sei, eine „zutiefst inhumane Auswahl“: Wer alt, arm oder krank sei, sei „chancenlos“. Das ist klug, denn darin steckt eine Wahrheit.

Die Schlepper sind teuer. Leisten kann sich die Überfahrt nicht jeder, in den allermeisten Fällen weder die Schwächsten noch die Ärmsten einer Gesellschaft. Egal, ob Menschen vor Krieg oder Diktatur fliehen, oder ob sie in ihrem Land keine Perspektive für sich sehen – sehr arm waren sie vor ihrer Flucht wahrscheinlich selten.

Der Zynismus und die Geschichtsvergessenheit dieser Forderung sind jedoch atemberaubend. Das Asylrecht in Deutschland ist weitgehend: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, heißt es in Artikel 16a des Grundgesetzes noch heute.

Bei der Einführung 1949 war dies eine dezidierte Distanzierung vom Nazi-Regime, das über sechs Millionen Jüdinnen und Juden ermordet hat und für eine der größten Fluchtbewegungen der Weltgeschichte verantwortlich war. Wie kann ausgerechnet die Union die Abschaffung dieses Rechts fordern?

Ausgerechnet Deutschland sollte das Asylrecht derart schleifen?

Frei kritisierte in der „FAZ“, dass, wer es einmal nach Europa geschafft hat, meist bleiben könne. Auch das ist in vielen Fällen wahr. Doch statt die Abschaffung des individuellen Asylrechts zu fordern, ist es wichtig, mit den Herkunftsstaaten der Flüchtenden zu verhandeln – und Wege zu finden, wie Menschen, die nicht fliehen müssen, eine Perspektive in ihren Ländern finden. Denn, noch eine einfache Wahrheit im Sinne Adenauers: Niemand verlässt seine Heimat freiwillig, um auf dem Mittelmeer vielleicht oder vielleicht auch nicht zu ertrinken.

Die Union stellt mit dieser Forderung plötzlich ein Grundrecht infrage, das sich nicht nur im Grundgesetz findet, sondern auch in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ der Vereinten Nationen. „Jeder Mensch hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgungen Asyl zu suchen und zu genießen“, heißt es dort. Es ist ein Dokument, das 1948 als Reaktion auf die Gräueltaten der Nationalsozialisten geschrieben wurden. Sollte es wirklich ausgerechnet Deutschland sein, das dieses Recht an den EU-Außengrenzen derart zu schleifen beginnt?

Eine solch ungeheuerliche Forderung zu erheben, muss Ausdruck der Krise sein, in der die CDU sich im Augenblick befindet. CDU-Politiker glauben offenbar, dass sie die AfD nur kleinkriegen können, wenn sie sich deren Forderungen zu eigen machen – und sich dafür noch feiern. Frei schreibt in seinem Gastbeitrag, das europäische Asylrecht solle nicht länger nach „seiner Gesinnung“, sondern „seinen Konsequenzen“ beurteilt werden.

Wäre die Konsequenz die Abschaffung des individuellen Asylrechts, hätten Rechtsextreme überall auf dem Kontinent das erreicht, was sie seit Jahren fordern. Die Christdemokraten hätten darüber ihre Menschlichkeit verloren.

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