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Lebensmittelrisiken: Dioxin macht nicht dick

Der Verbraucher hat das Gefühl, vergiftet zu werden – doch die wahren Lebensmittelrisiken liegen ganz woanders.

Das waren noch Zeiten, als das Essen ein unschuldiges Vergnügen war. Als der Schweinebraten ohne Reue verspeist wurde, die Buttercremetorte am Nachmittag zum festen Sonntagsritual gehörte und der Weinbrand zur Verdauung danach umso besser schmeckte. Damals war’s.

Heute dagegen fragen sich viele Bürger, was sie überhaupt noch essen können. Überall im Essen lauert das Gift. Pestizide, Hormone, Gene, Antibiotika, und jetzt, mal wieder, Dioxine. Kurzum: Dem Verbraucher vergeht der Appetit. Er geht seiner Bestimmung, nämlich zu „verbrauchen“, oft nur noch ungern nach. Das Essen hat seine Unschuld verloren. Ja, es ist zu einer Frage der Moral geworden. Um richtiges und falsches, um gutes und böses Essen, um Massentierhaltung und Vegetarismus tobt ein neuer Glaubenskrieg.

Wochenlang hat der jüngste Dioxin-Skandal die Nation in Atem gehalten. Bei einem Hersteller in Schleswig-Holstein war dioxinbelastetes Material einem Futterfett beigemischt worden, möglicherweise in krimineller Absicht. Wie sich herausstellte, stammte es unter anderem aus altem Frittierfett, das für die Biodieselproduktion vorgesehen war. Das dioxinhaltige Fett gelangte dann über das Futter in Eier, Hühner und Schweine.

Tausende Bauernhöfe wurden zeitweise gesperrt. Die Tests ergaben, dass der erlaubte Höchstgehalt an Dioxinen in Eiern hier und da überschritten wurde. Ein „Ausnahme-Ei“ gelangte mit zwölf billionstel Gramm (Pikogramm) Dioxin pro Gramm Fett zu Berühmtheit. Erlaubt ist ein Höchstgehalt von drei Pikogramm. Meist aber blieben die Messwerte unterhalb der Drei-Pikogramm-Grenze. Die Fachleute winkten rasch ab: keine akute Gesundheitsgefahr.

Trotzdem brach eine Debatte über Gift im Essen und die Abgründe der industriellen Landwirtschaft los, die umso grundsätzlicher wurde, je mehr sich das reale Risiko als eher dürftig herausstellte. Der Tonfall so mancher Kommentare ähnelte dem von Bußpredigten. Der Abschied vom ländlichen Idyll wurde beschworen, und in der Welle der allgemeinen Entrüstung bekamen auch Farbstoffe, Konservierungsmittel, Geschmacksverstärker und „Genfutter“ ihr Fett weg. „Wir essen schlechter als 1960“ lautete eine Schlagzeile. Die gute alte Zeit!

Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner geriet in Turbulenzen. Spät formulierte sie ein Zehnpunkteprogramm, das schärfere Kontrollen und Sanktionen der Futtermittelhersteller vorsieht. Sie werden nun stärker an die Kandare genommen. Panschereien haben in der Agrarindustrie nichts zu suchen und müssen geahndet werden.

Umso dringlicher stellt sich die Frage, ob früher wirklich alles besser war – oder ob sich nur unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit geändert hat. Bleiben wir fürs Erste beim Dioxin. Ein häufiger Irrtum besteht darin zu glauben, es ginge beim diesem Schadstoff um ein Entweder-Oder. Nach dem Motto: Das Industrie-Ei enthält das Gift, das Bio-Ei nicht. Das ist falsch. So gab es im Mai 2010 einen allerdings vergleichsweise wenig beachteten Skandal um dioxinbelastete Bio-Eier, der auf Bio-Mais aus der Ukraine zurückzuführen war. Eher in der Nähe des erlaubten Höchstgehalts an Dioxin sind auch die Eier freilaufender Hühner, die das Gift beim Scharren und Picken aus dem Boden aufnehmen.

Dioxin entsteht bei Verbrennungsprozessen. Es ist langlebig und findet sich überall in der Umwelt. In der Luft wie im Boden, im Tier wie in der Pflanze. Es gibt praktisch keine Lebensmittel ohne Dioxin. Wenn Ministerin Aigner behauptet, es sei „keinerlei“ Belastung durch Dioxin zu akzeptieren, dann ist das Augenwischerei.

Entscheidend ist nicht das Ob, sondern das Wieviel. Über die Giftigkeit eines Stoffes entscheidet die Dosis, wusste schon Paracelsus vor 500 Jahren. Das heißt, ein in Maßen harmloser Stoff wie Kochsalz ist tödlich, wenn er hoch dosiert wird. Und eine extrem giftige Substanz wie Dioxin ist in ultrageringer Menge – billionstel Gramm – für die Gesundheit belanglos, wie im aktuellen Skandal.

Seit Menschen um qualmende und rußende Herdfeuer zusammensitzen, also seit Hunderttausenden von Jahren, haben sie das dabei entstehende Dioxin eingeatmet oder über ihr Essen aufgenommen. Der Körper besitzt mit der Leber eine hochwirksame Entgiftungszentrale, die selbst Dioxin allmählich aus dem Organismus expediert. Mit der Industrialisierung dürfte die Belastung deutlich zugenommen haben, sie erreichte schließlich Mitte des 20. Jahrhunderts einen Höhepunkt.

Dann wurde gehandelt, nicht zuletzt wegen des Seveso-Chemieunfalls von 1976, bei dem große Mengen des Gifts entwichen. Dioxinerzeugende Prozesse wurden verboten, Luftfilter eingeführt, Kontrollen durchgesetzt. Die Belastung durch Dioxin konnte drastisch gesenkt werden. Heute enthält das Fettgewebe eines jungen Erwachsenen pro Gramm etwa zehn Pikogramm Dioxine, vor 20 Jahren waren es noch 25, vor 40 Jahren gar an die 80. 1990 entwichen 1,2 Kilogramm Dioxine in die Luft, 2005 waren es noch 70 Gramm.

Auch wenn sich immer wieder Zwischenfälle durch Dioxin-Verunreinigungen in Nahrungsmitteln ereignen – die weitgehende Lösung des Dioxin-Problems ist ein Triumph einer sinnvollen und zielgerichteten Umweltpolitik. Dioxine und andere Schadstoffe wurden weitgehend zurückgedrängt.

Nach allem, was wir heute wissen, gibt es keine Erkrankungen durch pestizid- oder dioxinbelastete Lebensmittel mehr. Unsere Lebensmittel sind sicherer denn je, auch wenn Medien, Verbraucherschützer und manche Politiker den gegenteiligen Eindruck erwecken. Je geringer das reale Risiko, umso größer das gefühlte.

Die größte Umweltgefahr in Lebensmitteln geht heute von Krankheitskeimen aus. 2009 wurden 78 Krankheitsausbrüche durch Mikroben in Lebensmitteln gemeldet, meist waren mit Salmonellen Durchfallerreger die Ursache. Nicht immer sind solche Infektionen harmlos. Vor einem Jahr stellte sich heraus, dass Käse aus Österreich gefährliche Bakterien enthielt, die vermutlich über Dungkäfer in die Käsefabrik eingeschleppt worden waren. Fünf Österreicher und drei Deutsche starben an der Infektion durch Listerien.

Merkwürdig nur, dass kaum jemand in der aktuellen Debatte den Elefanten im Raum erwähnt: den Krankmacher Über- und Fehlernährung. Fast die Hälfte aller Deutschen sei zu dick, hat die Bundesregierung schon vor vier Jahren festgestellt, 37 Millionen Erwachsene und rund zwei Millionen Kinder seien übergewichtig oder sogar fettleibig. Ob wirklich jeder Zweite zu viel wiegt, daran sind gewiss Zweifel erlaubt. Dass falsche und zu üppige Ernährung gewaltige Gesundheitskosten verursacht – die Rede ist von 70 Milliarden Euro im Jahr – ist dagegen kaum zu bezweifeln. Wir essen zu fett, zu salzig, zu süß, zu viel Fleisch und tierische Fette und vor allem: zu viel.

Die Krankenhäuser sind voll von Menschen, die ihr Leiden mindestens zum Teil falschen Ernährungsgewohnheiten zu verdanken haben. Schwergewichtige Diabetiker, deren Blutgefäße und Nerven durch anhaltend hohen Blutzucker geschädigt wurden. Herzkranke, deren Schlagadern verfettet und von Cholesterin verstopft sind. Menschen, deren Gelenke unter der Fettleibigkeit verschlissen sind. Ganz zu schweigen von den vielen, denen der Alkohol Hirn, Herz, Leber oder Bauchspeicheldrüse zerstört hat.

Die Schieflage im öffentlichen Bewusstsein macht auch die jüngste „Eurobarometer“-Umfrage im Auftrag der Europäischen Kommission zu Risiken im Lebensmittelbereich deutlich. „Beunruhigt“ sind danach drei von vier Deutschen wegen Pestizidrückständen in Obst, Gemüse und Getreide, ähnlich hohe Angst-Werte erreichen Rückstände wie Hormone im Fleisch, Schadstoffe wie Dioxine, Konservierungsmittel und gentechnisch veränderte Organismen. Real existierende Gesundheitsgefahren stehen am unteren Ende der Skala der Sorgen: Über Gewichtszunahme macht sich nur jeder Dritte Gedanken, über gesunde und ausgewogene Ernährung sind es lediglich 44 Prozent.

Verdenken kann man es niemandem, der angesichts echter oder vermeintlicher Lebensmittelskandale misstrauisch geworden ist. Die Angst vor Gift im Essen sitzt tief, durchaus möglich, dass sie ein genetisch vorgeprägter Reflex aus den Urzeiten der Menschheit ist. Damals bedeutete Vorsicht Überleben, wenn man verdorbenes Fleisch oder schimmelndes Obst verschmähte.

Auch unser moralisches Empfinden hat eine ihrer Wurzeln in der Idee der Reinheit und der Ablehnung des Schmutzigen, Ekligen, Unreinen. Darauf hat der amerikanische Psychologe Jonathan Haidt hingewiesen. Für Haidt zählt Reinheit zu den fünf elementaren „Farben“ unseres Moralsinns, neben Fürsorge, Gerechtigkeit, Loyalität und Respekt. Als Ministerin Aigner im Gefolge des Dioxin-Skandals ihren Aktionsplan für „saubere“ Lebensmittel vorstellte, hat sie also just auf diese moralische Sphäre angespielt und sie in uns zum Klingen gebracht. Wer wollte bezweifeln, dass es auch um moralische Sauberkeit geht.

Beim Thema Ernährung wird zudem häufig der „Moralismus-Schalter“ umgelegt. Mit diesem Begriff hat Haidts Kollege Steven Pinker den Zustand seelischer Erregung bezeichnet, der Menschen bei Fragen der Moral ergreift. Dabei geht es dann nicht nur um richtig oder falsch, sondern um gut und böse, um die gerechte Sache und darum, andere für sie zu gewinnen.

Ist der Schalter in Betrieb, sehen wir die Welt mit den Farben unseres Moralsinns. Das erklärt das hohe Erregungspotenzial trotz geringer realer Gefährdung, eine häufige Konstellation bei bundesdeutschen Lebensmittelskandalen. Mag sein, dass das Risiko durch die Dioxin-Höchstwertüberschreitungen belanglos ist. Aber die Tatsache, dass da ein Giftpanscher Roulette mit der Gesundheit ahnungsloser Verbraucher spielt, treibt die Zornesröte ins Gesicht.

Das Erzeugen von Lebensmitteln ist zu einem globalen, hochtechnischen und hochgradig vernetzten und regulierten Prozess geworden, für Außenstehende nur schwer durchschaubar und Misstrauen erweckend. Verständlich, dass man sich da nach der heilen Welt von einst zurücksehnt – eine Nostalgie, die in der Werbung nur zu gern bedient wird. In Wirklichkeit war die Ernährung früherer Zeiten nicht besser, sondern schlechter – eintöniger, mit Krankheitskeimen verseucht, ärmer an gesunden Inhaltsstoffen. Trotz aller Ekel- und Mäkelsucht: Wer will, kann sich heute hervorragend ernähren. Frisches Obst und Gemüse etwa sind in jedem Supermarkt zu jeder Jahreszeit verfügbar.

So mancher greift in diesen Tagen vermehrt zu Lebensmitteln mit dem Bio-Siegel. Ob sie den besseren oder gar alleinigen Weg in die Zukunft weisen, daran sind jedoch durchaus Zweifel erlaubt. Es steht außer Frage, dass viele Öko-Betriebe in der Tierzucht und -haltung höhere ethische Maßstäbe einhalten. Andererseits sind Bioprodukte weder nachweislich gesünder noch in jeder Hinsicht ökologischer. So ist der Flächenbedarf wegen der geringeren Erträge höher als in herkömmlichen Agrarbetrieben.

In Deutschland, wo der Überfluss regiert, spielt das kaum eine Rolle. Noch nicht. Aber weltweit stellen Bevölkerungswachstum und Klimawandel die Nahrungsmittelproduktion vor große Herausforderungen. Jeden Tag wächst die Erdbevölkerung um rund 200000 Menschen. In diesem Jahr wird die Sieben-Milliarden-Grenze überschritten, für die Jahrhundertmitte sagen die Vereinten Nationen neun Milliarden Menschen voraus. Schon heute hungern eine Milliarde Menschen, weil sie zu arm sind, um sich ausreichend zu essen zu kaufen. Zugleich steigen mit dem Wohlstand in Aufsteigernationen wie China auch die Ansprüche, der Wunsch nach mehr Vielfalt und mehr Fleisch.

Um die Welternährung sicherzustellen, wird es wirtschaftlicher, politischer und sozialer Maßnahmen bedürfen. Aber das genügt nicht. Auch eine zweite grüne Revolution ist erforderlich, wie das Wissenschaftsmagazin „Nature“ zu Recht gefordert hat. Diese Revolution soll gleichsam die Quadratur des Kreises schaffen, nämlich die landwirtschaftlichen Erträge massiv steigern, ohne dabei den Flächenbedarf deutlich zu erhöhen. Das geht nur mit einer ganzen Reihe von Maßnahmen, etwa der Züchtung neuer Nutzpflanzen (mit oder ohne Gentechnik), die weniger Wasser und Dünger benötigen und dazu Hitze, Trockenheit und Schädlinge verkraften.

Das Dioxin-Problem in den Griff zu bekommen war dagegen fast eine Kleinigkeit.

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