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Meinung: Dresden macht Hoffnung

Der Streit um den Bombenkrieg verdeckt: An der Elbe hat sich längst eine Erinnerungskultur etabliert, der es nicht um Aufrechnung geht

An diesem Sonntagabend werden kurz vor zehn Uhr in Dresden wieder die Glocken zu läuten beginnen. Es ist der Zeitpunkt, zu dem vor 60 Jahren die ersten Bomber der britischen Luftwaffe die Grenzen der Stadt erreichten. Der Angriff, dem drei Stunden später ein zweiter folgte, verwandelte Dresden binnen kurzem in ein Inferno. Ein dritter Angriff am nächsten Tag, geflogen von amerikanischen Bombern, vollendete die Vernichtung der Innenstadt. Zwar hat es stärkere Zerstörungen deutscher Städte gegeben. Aber keine hat sich so ins kollektive Gedächtnis eingegraben, hat eine vergleichbare mythische Kraft entwickelt wie der Untergang Dresdens. Er wurde zum Symbol für die Gewalt des Bombenterrors im zweiten Weltkrieg.

Nirgendwo schienen sich dessen barbarische Wirkungen und dessen Sinnlosigkeit so dramatisch zu offenbaren wie im Schicksal dieser Stadt. Dresden, der Inbegriff barocker Heiterkeit, bis dahin kaum beschädigt, ohne größere militärische Bedeutung und deshalb auch als sicher geltend, als, in der drastischen Sprache der Zeit, „Reichsluftschutzkeller“ – ausgelöscht von einem auf den anderen Tag, zu einem Zeitpunkt, da das Ende des Krieges schon absehbar war. Das Erschrecken darüber übersteigt seit 60 Jahren die Vorstellungskraft. „Wer das Weinen verlernt hat, der lernt es wieder beim Untergang Dresdens“ lautete die fast antike Klage-Formel, in der der greise Gerhard Hauptmann, der den Angriff miterlebte, seine Erschütterung zu fassen suchte.

Kaum eine andere Stadt hat sich in der Folgezeit so über ihren Schmerz gebeugt wie Dresden. Keine lebte in der Nachkriegszeit so sehr in der Erinnerung an das, was sie einmal gewesen war. Aber kaum irgendwo sonst hielt auch das Bild der aufgerissenen, zerbrochenen Stadtlandschaft die Zerstörung über Jahrzehnte hinweg so präsent im Bewusstsein ihrer Bürger. Im Mittelpunkt die Memento-Figur der Ruine der Frauenkirche: ein schwarz aufragender Pfeiler, ein Trümmerberg, für bald ein halbes Jahrhundert Verkörperung dieses Stadtschicksals.

Doch seit dem vergangenen Jahr ragt die Frauenkirche wieder über die Stadt hinaus. Dresden zeigt die alte, südlich anmutende Silhouette an der Elbe, das bezwingende Emblem seiner Urbanität. Das Schloss, seit Kriegsende ein ausgebranntes, dunkles Trümmerrevier, ist von neuem ein Ort für Sammlungen, Ausstellungen und festliche Geselligkeit. Mit anderen Worten: Nie zuvor hatte die Stadt so viel Anlass wie an diesem 13. Februar, die Erinnerung an ihre Zerstörung mit dem dankbaren Gefühl dafür zu verbinden, dass es gelingen kann, Wunden zu heilen. Umso stärker trifft es die Stadt, dass über dem Gedenktag der Schatten von Auseinandersetzungen liegt, die das Gedenken ins Zwielicht rücken. Denkt man sie weiter, haben sie das Zeug, den Konsens auf die Probe zu stellen, den die Deutschen für ihr Verhältnis zur Vergangenheit in den letzten Jahrzehnten gefunden haben.

Die Rede ist von dem Versuch, aus diesem Tag rechtsradikales Kapital zu schlagen. Vor rund drei Wochen hat die NPD im sächsischen Landtag den Angriff auf die Stadt einen „Bombenholocaust“ genannt. Sie hat ihn damit demonstrativ gegen Auschwitz in Stellung gebracht, dem sie zugleich – wenige Tage vor dem weltweiten Gedenken an das Vernichtungslager – die Geste der Anteilnahme verweigerte. Der zynische, provokative Charakter der NPD-Aktion liegt offen zu Tage. Dennoch rührt sie an eine empfindliche, hoch reizbare Stelle im öffentlichen Bewusstsein. Indem die NPD den Angriff auf Dresden zum puren „Massenmord an der Zivilbevölkerung“ erklärte, wird die Zerstörung der Stadt aus dem historischen Kontext gelöst. Die Verbindung mit Machtübernahme und Angriffskrieg, die doch der Ursprung des großen Zerstörens und Vernichtens waren, das schließlich auch Dresden hinabriss, wird gekappt, die deutsche Verantwortung ausgeblendet. Es ist nichts Geringeres als der Versuch einer Umwertung des deutschen Geschichtsbildes – wenn auch mit der Brechstange übelster Verdrehungen.

Dafür gibt es in Deutschland nach wie vor keine Chance, und auch nur der Versuch einer Aufrechnung nach dem Muster Dresden gegen Auschwitz stieße auf einhellige Verachtung. Doch in dem Deutschland, das sich mit diesem Erinnerungsjahr anschickt, einen Platz im Kreis der Überwinder des Jahrhundert-Debakels einzunehmen – der Bundespräsident eben in Auschwitz, der Bundeskanzler am 9. Mai in Moskau –, zeichnen sich Verschiebungen im historischen Untergrund ab.

Das merkwürdig emphatische Interesse gehört dazu, dass sich seit ein paar Jahren für das Schicksal der Deutschen zeigte, als sie ausgebombt wurden, flüchten mussten, vertrieben wurden. Der Beschäftigung mit der Zeitgeschichte ist ein emotionales Element beigemischt, das es so früher nicht gab. Das trägt den Erfolg der Fernsehserien über die Vertreibung, von Filmen wie „Der Untergang“, von Büchern wie dem von Jörg Friedrich über Deutschland im Bombenkrieg, und wohl auch die Anzeigen mit dem Eisernen Kreuz in der FAZ.

Das alles sind Indikatoren einer Veränderung im Verhältnis der Deutschen zu sich selbst und ihrer Geschichte, die man besser zu begreifen versucht als sie revisionistisch zu verdächtigen. Sie zieht Fragen nach sich wie die, ob denn nicht auch davon gesprochen werden dürfe, was die Deutschen erlitten haben – 60 Jahre nach Kriegsende, nach der Verurteilung der Nazi-Untaten, nach den erfolgreichen Bemühungen um Aussöhnung und Partnerschaft. Sie werfen damit das Problem auf, wieweit das Volk der Täter sich auch als ein Volk von Opfern empfinden darf. Verkleinert es seine Verantwortung, wenn es sich so stark den Leiden und Verlusten zuwendet, die die eigenen Väter und Mütter, Großväter und Großmütter zu ertragen hatten? Muss ihre Trauer um Verlorenes immer wieder unter geschichtspolitische Kuratel gestellt werden?

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Nie war das Gedenken verboten, und in den Familienerzählungen und am Stammtisch waren die Schrecken von Krieg, Bombennächten und Vertreibung immer lebendig. Aber es ist richtig, dass Vertreibung und Bombenkrieg mit den Jahren und Jahrzehnten eher an den Rand der öffentlichen Wahrnehmung gerieten. Es war auch nicht nur eine selbstinstallierte, keineswegs unbegründete Gedanken- und Gefühlshygiene, die sie dahin brachte. Es war auch die Folge der von der Bundesrepublik und den sie tragenden Kräften getroffenen Entscheidung, Versagen und Schuld anzuerkennen, um den neuen politischen Anfang zu legitimieren – Auschwitz als Bestandteil unserer Identität heißt das in den Worten, die der Bundespräsident eben in Israel gewählt hat. Nun tritt die Geschichte von Opfern und Verlusten wieder hervor – nicht, wenn man richtig sieht, um die Übereinstimmung über den Zusammenhang von Schuld und Katastrophe aufzukündigen, sondern um die Wahrheit in sie einzubringen, die erlittenes Leid und erlebter Schrecken haben. An der leider ganz und gar eindeutigen Schuld-Rechnung für das Geschehene ändert das nichts. Aber die Deutschen, die von damals, die von heute, kommen sich näher.

Nirgendwo wird diese Situation, die uns die Vergangenheit hinterlassen hat, so drastisch fassbar wie in Dresden. Die Flüchtenden im Feuersturm des Flächenbrands, die Erstickten in den Kellern, die Leichenberge, die auf den Scheiterhaufen auf dem Altmarkt verbrannt wurden – sie waren ja eindeutig keine Täter, sondern Opfer. Keine deutsche Schuld ändert etwas daran, dass mit der Zerstörung der viel geliebten Stadt Unwiederbringliches hinweggerafft und der ganzen empfindenden Welt ein Schaden zugefügt wurde. Erst recht ist in Dresden gar nicht an der Frage vorbeizukommen, ob die Zerstörung der Stadt denn irgendwie zu rechtfertigen war oder ob sie einen Akt barbarischen Terrors darstellte.

Was diese alte Streitfrage angeht, so hat das Rechten über sie in diesem Jahr durch den englischen Autor Frederick Taylor eine neue Zuspitzung erfahren. Er macht geltend, dass es in Dresden durchaus Ziele gegeben habe, die einen Angriff begründen konnten – Nachschubverbindungen, die wegen der näher rückenden Ostfront wichtig waren, auch kriegswichtige Industrie. Vor allem rückt er ins Gedächtnis, dass noch Krieg war, an allen Fronten. London zum Beispiel lag noch unter V-2-Beschuss. Dennoch geht Taylor mit seinen Landsleuten hart ins Gericht. Er hält ihnen die technokratische Kaltblütigkeit vor, mit der die englische Luftwaffe den Feuersturm kalkuliert hat, der die Stadt vernichtete. Dennoch zögert er, den Angriff ein Kriegsverbrechen zu nennen. Er verharrt bei dem Erschrecken darüber, „was zivilisierte Europäer (und Amerikaner) bis zum Jahr 1945 einander anzutun fähig waren“.

Ist das dieser Tragödie letzter Schluss? Kann es überhaupt einen anderen geben? Der 60. Jahrestag des Angriffs hat die Waage der Gefühle, Betroffenheit und Anklage, Traumata und Ressentiments wieder heftig in Bewegung gebracht. Zumal im Internet bilden sich Meinungsausschläge ab, die an die Schmerzgrenze gehen – als Extreme einerseits die Schamlosigkeit, mit der Neonazis sich der nationalistischen Phraseologie bedienen, andererseits der Hohn, mit dem die Linksradikalen das Gedenken als Geschichtsrevisionismus vorführen.

Aber es gibt in Dresden auch, getragen von unterschiedlichen Gruppen, einen „Rahmen für das Erinnern“, der in der Lage ist, die selbstzerstörerischen Fliehkräfte dieser Debatte zu bremsen. Er gibt der Erinnerung und Trauer Raum und hält dennoch fest an dem Zusammenhang mit Nationalsozialismus und Krieg. Er verteidigt das Gedenken gegen Verharmlosung und Aufrechnung.

Es gehört zu den Besonderheiten Dresdens, dass sich solche Empfehlungen auf einen festen Grund im Leben der Stadt stützen können. Das Glockenläuten und die stumme Demonstration auf dem Altmarkt in der Stunde des Angriffs, diese bewegende Einholung eines Ereignisses, das über alle Begriffe hinausgeht, gibt es beispielsweise schon so lange, dass sich auch ältere Dresdner nicht mehr an seinen Beginn erinnern können. Es ist nur ein Strang in dem Netz des Gedenkens, das sich in einem halben Jahrhundert entwickelt hat: mit Gottesdiensten, mit der Kranzniederlegung auf dem Heidefriedhof an den Massengräbern, mit Konzerten, die in einer Schweigeminute enden, mit den Kerzen, die seit 1982 an der Ruine der Frauenkirche aufgestellt werden – von ihnen führt eine direkte Spur zum Herbst 1989 –, vor allem aber mit der Partnerschaft mit Coventry, der Chiffre des deutschen Bombenterrors, zuerst geknüpft in den 60er Jahren über die Aktion Sühnezeichen.

Das alles sei längst zum Ritual geworden? Aber öffentliche Zeichen und Gesten sind dazu da, das zu bannen, was mit Deutungen und Erklärungen am Ende doch nicht beantwortet werden kann. Die dabei gewachsene Tradition und das Trauma, das hinter ihr steht, haben das Gedenken auch fähig gemacht, der Instrumentalisierung zu widerstehen. Die SED hat sie versucht, vor allem im Kalten Krieg der 50er Jahre, indem sie mit der Parole vom „anglo-amerikanischen Bombenterror“ antiamerikanische Ressentiments schürte. Das prallte ab an dem – das Wort ist erlaubt – zivilgesellschaftlichen, vor allem kirchlich getragenen Umgang mit der Erinnerung.

Er hat das Fundament abgegeben, auf dem nach der Wende das Gedenken an den 13. Februar weiter ausgreifen konnte, im nationalen Rahmen und darüber hinaus. 1992 war Dresden erste Station nach Berlin beim Deutschlandbesuch der englischen Königin, angesichts der Debatten im eigenen Land ein großer, mutiger Schritt. Der Herzog von Kent kam 1995, zur 50. Wiederkehr der Zerstörung, bei der Bundespräsident Roman Herzog eine bedeutende Rede hielt. Über ein ganzes Jahrzehnt nahmen Freundeskreise aus aller Welt am Wiederaufbau der Frauenkirche tätigen Anteil.

Die Zerstörung Dresdens bildete den Höhepunkt des Bombenkrieges. Aber Dresden beweist auch, dass Gedenken zur Versöhnung führen kann, mit den ehemaligen Kriegsgegnern und mit der eigenen Geschichte. Das Kreuz, das im vergangenen Jahr der wiederhergestellten Kirche aufgesetzt wurde, war ein Geschenk der Briten, gefertigt von einem englischen Kunstschmied, dessen Vater als Bomberpilot an der Zerstörung Dresdens beteiligt war. Was wäre Erinnerungskultur, wenn nicht das?

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